Linda Sur

Das Tochterspiel

Die Kunst, Leiris, ist das Wechselspiel, sind die Wechselfälle des Lebens.

In meinem Fall war ich fast ein Tochterleben lang die Maus, mit der die Katze spielte. Einmal hielt sie in ihren Krallen Leckereien aufgespießt und streckte mir die Samtpfote vor die Nase, ließ den Duft der Köstlichkeit um mein Riechorgan streichen, machte ein harmloses Gesicht und lud zum Mahl. Kaum näherte ich mich dieser stummen aber zwingenden Aufforderung und wollte gutgläubig von den dargebotenen Speisen kosten, zog mein Peiniger die Krallen ein, die Käse- und sonstigen Stückchen fielen zu Boden und mein ungläubiger Blick wurde mit einem Hieb aus der gerade noch hingestreckten Pfote zerschnitten. Eine Tochter brauchte nicht klar zu sehen, sie hatte zu gehorchen.

Ein andermal lag die Katze armselig in sich zusammengerollt, erweckte den Anschein von Müdigkeit, enthoben jeder Kampfeslust, ein träge vor sich hinschnurrendes Tier, Einsamkeit ausstrahlend  und Mitleid erregend zog sie mich in ihren Bann und alle Vorsicht vergessend schlich ich mich milde gestimmt an sie heran, um ihr tröstend das stumpfe Fell zu lecken. Da fauchte sie mich an, stellte ihre Haare auf und versetzte mir erneut mehrere Schläge, die mich vertrieben und mich schwören ließen, nie mehr auf sie hereinzufallen, wohl wissend, dass es wieder nur ein Meineid sein werde.

Ich verschloss die Ohren und folgte doch jedem noch so leisen Ruf. An ein unsichtbares Gummiband gekettet, schnellte ich trotz oder besser gesagt gerade wegen der bewusst herbeigeführten Vergrößerung des räumlichen Abstandes umso heftiger zurück.

Ja, das Mauseleben war anstrengend, vor allem, da ich es als Katze lebte, gefangen in einem Kleid, das man mir gleich nach der Geburt verpasst hatte, eine aufgezwungene Maskerade, die der Katze das lebenslange Recht auf ihr perfides Machtspiel mit einem harmlosen Nager sichern sollte.

Das graue Kleidchen wurde aber mit jedem Jahr durchsichtiger und verschlissener und da und dort traten durch die brüchigen Stellen Fellstückchen ans Tageslicht, deren vermehrtes Auftreten das grausame Spiel anfänglich verstärkten, wollte doch die Katze diese Ungeheuerlichkeit beseitigen, indem sie versuchte, die verräterischen Haarbüschel mit dem Maul auszureißen.

Wie gesagt, arbeitete die Zeit für mich und ich selbst wetzte mir mit aller Kraft und Anstrengung die letzten grauen Korsettfetzen vom Leibe, putzte und schleckte mein Fell und betrachtete mit Staunen meine Metamorphose. Das also war ich. Eine Katze mit glänzendem Fell, flinken und verhaltenen Gesten und Krallen, herrlichen Krallen, geschaffen für herrliche Spiele.

Lieber Leiris, trotz meiner Krallen, deren ich mir mittlerweile gewiss bin (ich betrachte sie oft staunend des nächtens und feile sie bisweilen rund), lebe ich ein Leben angesiedelt zwischen Katze und Maus, denn damit die verkotete Wäsche nicht an mir hängen bleibt und ich den Rücken, der zur Maus mutierten alten Katze, beim Eincremen nicht verletze, ziehe ich sie ein beim Tochterspiel, muss mich also doch noch immer eher mit der Maus als mit der Katze vergleichen, wenn ich mich schon darauf versteife, die Sache unter einem tragischen Gesichtspunkt zu sehen.


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