Was
kann das Theater für die Netzkultur beitragen? Das Theater beginnt erst, die Möglichkeiten des
weltweiten Netzes für sich zu nutzen. Relativ spät haben Theaterverlage angefangen,
Stücke ins Netz zu stellen und immer noch gibt es unter dem Dach unserer Stadttheater
zurückgezogene Dramaturgen, die vom weltweiten Netz nichts wissen wollen. Sie haben schon
vorher nichts von einem Theater der Gegenstände wissen wollen, auch nichts von den neuen
elektroakustischen Möglichkeiten, das Publikum zu faszinieren, ganz zu schweigen von
Lasertechnologie und Videobeaming. Das sind Deutschlehrer, die Angst vor Kindern haben und
unter dem Dach eines Stadttheaters Zuflucht fanden. Leider entscheiden sie über den
Spielplan. Deshalb ist ein gut 400 Jahre toter Mann aus England immer noch der
meistgespielte deutschsprachige Autor. Man hat Shakespeares Theater in London jetzt
nachgebaut. Ich habe es mir angeschaut. Total falsch herum. Die Schauspieler spielen im
Schatten und auf den teuersten Plätzen blinzelt man gegen die Sonne.
Mit John F. Kennedy
kriege ich die Kurve: „Don’t ask, what your country can do for you, but ask,
what you can do for your country.” Nicht nur für Wirtschaft
und Politik, sondern auch für das Theater ist das Netz überwiegend eine Einbahnstraße.
Mehr als dass man seine Vorstellungen ankündigt, findet in der Regel nicht statt. Das
Burgtheater hat mir gerade ein sagenhaft billiges Platzkontingent für Sunny Boys
auf den teuersten Plätzen angeboten. Was soll ich mit 150 Eintrittskarten, 7 Euro per
Stück, um zwei meiner Lieblingsschauspieler, Gert Voss und Ignaz Kirchner in Action zu
sehen?
Was kann das Theater für
das Netz tun? Fragen wir erst einmal, was das Theater kann, und das ist nach 4000 Jahren
ein bisschen mehr geworden als damals. Manchmal denke ich mir, dass es da eine Urquelle
geben muss, um es einmal ganz lieb zu formulieren: Theater ist die kleine Welt, auf der
die große Probe hält. Heute setzt man Theater nicht nur für den allstädtischen
Barocktempel und den Bauernschwank ein, sondern auch für vielfältige soziale Prozesse
bis hin zur Familientherapie und auf der Suche nach Lösungen in Konflikt-beladenen Teams
und in Unternehmen, die kurz vor der Pleite stehen.
Bei den Sims, einem
sattsam abgenudelten Computerspiel, kann man den Willen der handelnden Personen
ausschalten. Die gehen dann nicht aufs Klo, sondern pissen auf den Teppich, wenn sie
müssen. Wenn die anderen Personen nicht aktiviert werden und üblicherweise ungerührt
beim Pissen wegschauen, muss man selber aufwischen. Das gibt Punkteverlust. Das Spiel
wäre auf dem Theater unglaubwürdig. Es ließe sich als töricht auf der Bühne wunderbar
bloßstellen. Aber sonst wäre eine Reaktion auf das seltsame Verhalten des Teppichpissers
schon angebracht. Wenigstens Empörung.
Stefan Göbel und
Sebastian Sauer basteln an einer Installation für das Frankfurter Senckenbergmuseum.
Eröffnung ist im November. Dort stehen Skelette von Dinosauriern herum. Mit Hilfe eigener
Software sollen die Knochen virtuell auf einem kleinen gegen die Knochen gehaltenen
Palm-Computer Fleisch und Blut werden, atmen und herumlaufen. Die Hautfarbe kann man sich
aussuchen, wunderbar. Sie suchen noch nach einem Pumuckl, der durch das Museum führen
soll und bemängeln, dass er noch keine Emotionen hat. Meine Idee, die Zeichner des
Pumuckl in einen Theaterworkshop zu schicken, um individuelle Haltungen sichtbar werden zu
lassen, hat sie begeistert.
Ich habe dort im Louvre
das Grazer Kindermuseum präsentieren dürfen. Das habe ich immer als Theaterinszenierung
begriffen, natürlich nicht so, dass da mit Fanfaren ein roter Vorhang gehoben wird.
Obwohl ich mir in letzter Minute von der Architektin Hemma Fasch Fotos vom Baufortschritt
per E-Mail zukommen ließ und allen auf einem mir fremden Apple-Computer präsentieren
konnte, fragten mich immer wieder die Leute, ob das jetzt eine Kopfgeburt von mir sei. Das
war anfangs eine Kopfgeburt, aber von vielen aus verschiedenen Disziplinen - im Gegensatz
zu anderen Museen, die eine große Sammlung oder ein abgesoffenes Bergwerk zu
revitalisieren haben, voraussetzungslos. Das Grazer Kindermuseum war, kann man jetzt
sagen, eine Netzgeburt. Wenn es nach mir geht, wird es den virtuellen Schwebezustand,
gespeist von kindlicher Fantasie immer beibehalten dürfen.
Ich habe vor, das Grazer
Kindermuseum zu einem international beachteten Kompetenzzentrum für Spiel zu machen. Das
funktioniert praktisch nur virtuell und mit dem Nachtzug von Zürich nach Graz.
Schlüsselgewalt habe ich nur für den Zug. Ich habe Angst, dass man ihn abschaffen
könnte, den Zug zur großen weiten Welt, und dass man sich mit Sandkastenspielen im
Grazer Augarten begnügen könnte. Das stößt mir bitter auf. Die ersten Stimmen werden
laut: Wozu? Wofür so viel Geld ausgeben, um letztlich die Kinder vor dem Museum in die
Matschkiste zu stecken und nichts anderes als im feuchten Sand buddeln zu lassen? Und
unter der Hand geht der Abenteuerspielplatz von Fratz-Graz an die Autoversuchsfabrik List,
um daraus Autoabstellplätze für die Mitarbeiter zu schaffen, die kein Fahrrad haben.
Steht am Donnerstag auf der Tagesordnung des Grazer Gemeinderats. Also heute und hier,
Tatort Graz, diesem schäbigen Nest politischer Unkultur, derweil am europäischen Lametta
zupfend, um die größten Löcher im Kopf zu bedecken. Nächstes Jahr kriegt die Stadt
einen Haufen Geld und weiß es nicht einmal. Tourismusabgabe ist nach dem Kulturjahr
fällig. Her damit!
Meine Studierenden haben
mir nach einem Theaterworkshop vorgeschlagen, Radioprogramm mit blinden Menschen zu
machen. Christian Nowak, von Beruf Unternehmensberater, hat darauf gleich ein
Hörspieltheater nach dem Vorbild der Non-Stop-Wochenschaukinos in der Grazer Innenstadt
vorgeschlagen und wir haben auch gleich dessen Wirtschaftlichkeit überprüft. Vorn ein
Kaffeehaus und geht schon. Gerade bei einem Radioprogramm ist Teilhabe von überall
wichtig. Ohne das weltweite Netz wäre das mühsam. Alles könnte wunderbar laufen. Wir
werden sehen.
Es gilt noch abgesehen
von der jämmerlichen Software einen alten Streit zu überwinden, nämlich den Streit
zwischen denen, die Film und denen, die in Österreich Theater machen. Auf einem
Filmfestival in Wels vor vielen Jahren kam ich mir gefoppt vor als ausgestellter
Theatermacher, der sich zu den Niederungen des Films herablässt – Ausgeburt eines
Minderwertigkeitskomplexes. Die Filmszene in diesem Land habe ich selten so albern erlebt
wie damals. Das ist ein wirklicher Schaden. Denn für Netzadaptierungen brauchen wir
dringend Leute, die mit Bild und Ton umgehen können und keine aufgeregten Jammerlappen,
die um ihr Ego zu salben, harmlose Bürger vor die Kamera zerren, um sie in ihrer Einfalt
vorzuführen. Das ist zutiefst schäbig. Aber man gewinnt Filmpreise damit. |
Hans Fraeulin
Was dem Netz abgeht, ist
der Inhalt, sei es eine Sammlung von Teddybären, sei es ein seltsames Bauwerk oder eine
abgesoffene Mine, in die man damals vorzugsweise Kinder hineinschickte, um nicht an den
Deckenbalken anzustoßen.
Es sind diese Geschichten
zu bergen und für das Internet zugänglich zu machen. Sonst verkommt das weltweite Netz
in einem grenzenlos albernen Lügengeflecht. Ich nenne zwei Beispiele, den Gesetzesstein
des Hammurabi und Bambule. Den Stein kann man im Louvre außer mittwochs bewundern. Dass
es davon mehrere Exemplare gibt, will niemand wahrhaben, regt sich darüber auf, dass er
aus dem Nationalmuseum von Bagdad gestohlen worden sei. Freilich, aber seit 100 Jahren im
Louvre – und im Kloster auf dem Montserrat.
Über Bambule findet man
im Netz zehn Tausend Hinweise, darunter kein einziger, der das Wort erklärt, ins Deutsche
übersetzt. Nicht einmal die Betreiber des Spielplatzes in Hamburg, die mit Bambule
firmieren, wissen, woher das Wort kommt und was es bedeutet. Sie berufen sich auf einen
Film mit diesem Namen von Ulrike Meinhof – Terroristin der RAF.
Sie hat das Wort in
seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet. Bambule ist der übliche Gefängniskoller.
Randale ist das, was auf dem Spielplatz in Hamburg passiert ist, aber auch anderswo
passieren kann. Beides ist Rotwelsch und kommt im Netz kaum vor, kein Wunder, ist man doch
immer noch damit beschäftigt, das Bildungsgut des situierten Mitteleuropäers
einzuspeichern. Gaunersprache kommt im Netz noch nicht vor. Das beruhigt – Gauner wie
mich. Und es erregt vielleicht Leute am anderen Ende der Welt, die nachforschen, wie das
fahrende Volk kommuniziert. Das ist aber zurzeit nicht zu befürchten.
Es liegt an uns selbst,
das weltweite Netz mit dem zu füttern, das uns am Herzen liegt und weitergegeben werden
soll. Mit Martin Krusches Hilfe versuche ich alle Leute auf 100 Jahre Bloomsday
einzustimmen und animiere sie mitzumachen. Das lässt sich nicht schlecht an. Wir planen
einen Charivari, das ist eine Art Prozessionstheater, vom Grazer Medienturm zum
Schauspielhaus, wo der Schlussmonolog von Molly Bloom ablaufen soll. Das weltweite Netz
zwingt einen da zu einem bescheidenen Auftreten. 240.000 Hinweise gibt es für den
Doomsday, den Jüngsten Tag aus der Google-Suchmaschine zu holen, einfach, weil man nicht
weiß und darüber spekuliert, wann der Termin sein soll. Bloomsday ist am 16. Juni. Aber
immerhin 24.000 Hinweise – ganz schön was los in der Welt an Bloomsday. Filtert man
die deutschsprachigen Beiträge heraus, wird es peinlich: so um die 520 Hinweise –
fast alle belanglos, als wolle man in Deutschland und Österreich den jüngsten Tag
verschlafen. Immerhin eine Herausforderung für das Netz. Es liegt jede Menge
Öffentlichkeitsarbeit an, um diesen Nationalfeiertag von Sydney bis New York in Graz und
Wien bekannt zu machen. Das gehört zur Theaterarbeit dazu.
Irmtraud Morgners
„Troubadura...“ gehörte vor 20 Jahren zu den ersten ernsthaften Versuchen, die
Linearität eines Buchs zu verlassen. Sie forderte ihre Leserschaft auf, nach Belieben den
unterschiedlichen Erzählsträngen zu folgen. Aber bald war ich das Hin- und Herblättern
Leid und brauchte schließlich zwei Jahre, um ihr Buch zu lesen. Das weltweite Netz mit
seinem Aufbau der Websites und den Hyperlinks gestattet nun ein rasches Navigieren und
eine Lektüre nach eigenem Geschmack. Das erleichtert nicht nur wissenschaftliches
Arbeiten, sondern fordert geradezu heraus, eine lineare Erzählweise zu verlassen. Das ist
nicht leicht, wie ein Erzählwettbewerb der ZEIT für das Netz ergab. Wann haben sie
zuletzt einen Film gesehen, in dem zwei oder mehr Szenen gleichzeitig zu sehen waren? Im
TV läuft zur Zeit 24 Stunden mit Kiefer Sutherland, in der manchmal bis zu drei Szenen
gleichzeitig zu sehen sind. Vehikel für diesen dramaturgischen Kniff ist die Vorgabe
einer vollständigen Dokumentation der Ereignisse in Echtzeit. Echtzeit ist eine alte
Hollywood-Konvention, die man zu diesem Zweck exhumierte.
Beim Theater können Sie
gar nicht anders, als in mehreren Gleichzeitigkeiten zu denken. Selbst bei einem
Ein-Personen-Stück wie Becketts Krapps letztes Band hat man sich zu überlegen, was mit
dem Band geschieht, während Krapp redet. Sonst sind es die anderen Personen auf der
Bühne, die leider meist als unbeteiligt und stumme Beobachter inszeniert werden. Ganz
schlimm ergeht es da Nestroy, wenn sein „Zu ebener Erde und im ersten Stock“
inszeniert wird. Meistens wird abwechselnd in den Stockwerken das Licht an- und
ausgeknipst. Wir haben uns während des Regiestudiums den Scherz erlaubt, drei Stücke
Becketts, die von ihm als Endlosschleifen konzipiert waren, gleichzeitig laufen zu lassen.
Mathias Grilj schrieb nachher in der Kronenzeitung, er hätte das Gefühl gehabt, überall
zu spät zu kommen. Nun hat Sasha Waltz eigene Stücke für den steirischen herbst
inszeniert, die gleichzeitig ablaufen, und verkündet keck im Radio, man könne gar nicht
alles an einem Abend sehen.
Die Beispiele mögen
zeigen, dass im Theater ein für die Netzkultur ideales Strukturpotenzial schlummert, das
von den Theaterleuten auf der Bühne viel zu wenig genutzt wird, im weltweiten Netz von
ihnen so gut wie gar nicht. Das ist auch der Grund, weshalb Stoffe, die es über
belanglose Anbahnungs Chats hinaus wert sind, verhandelt zu werden, selten im Netz zu
finden sind. Wenn Theaterleute außer Spielplanankündigungen für das Netz etwas
schreiben, ist es meistens etwas kulturpolitisches. Wie schön wäre es, wenn sich zwei
oder mehrere Autorinnen an ihr elektrisches Schreibgerät begeben würden und sich mit
Sätzen befetzen und damit einen Konflikt ausverhandeln, der es wert ist, von einer
großen Gemeinde von Usern mitverfolgt zu werden. Dabei wird es sehr schnell mehrere
Kriegsschauplätze geben und auch die Zahl der Beteiligten wird wachsen. Wer sich darunter
nicht viel vorstellen kann, dem sei geraten, einmal die Diskussionsforen der Kopfschrauber
auf der sehr nützlichen Website des ACC zu besuchen, wo leidenschaftlich über die
Ursachen des Übels gestritten wird und wie man seinen Citroen am besten repariert.
Graz, am 18.9.03 |