Hans Fraeulin

"Leiblichkeit und virtuelle Räume"


Was kann das Theater für die Netzkultur beitragen?

Das Theater beginnt erst, die Möglichkeiten des weltweiten Netzes für sich zu nutzen. Relativ spät haben Theaterverlage angefangen, Stücke ins Netz zu stellen und immer noch gibt es unter dem Dach unserer Stadttheater zurückgezogene Dramaturgen, die vom weltweiten Netz nichts wissen wollen. Sie haben schon vorher nichts von einem Theater der Gegenstände wissen wollen, auch nichts von den neuen elektroakustischen Möglichkeiten, das Publikum zu faszinieren, ganz zu schweigen von Lasertechnologie und Videobeaming. Das sind Deutschlehrer, die Angst vor Kindern haben und unter dem Dach eines Stadttheaters Zuflucht fanden. Leider entscheiden sie über den Spielplan. Deshalb ist ein gut 400 Jahre toter Mann aus England immer noch der meistgespielte deutschsprachige Autor. Man hat Shakespeares Theater in London jetzt nachgebaut. Ich habe es mir angeschaut. Total falsch herum. Die Schauspieler spielen im Schatten und auf den teuersten Plätzen blinzelt man gegen die Sonne.

Mit John F. Kennedy kriege ich die Kurve: „Don’t ask, what your country can do for you, but ask, what you can do for your country.” Nicht nur für Wirtschaft und Politik, sondern auch für das Theater ist das Netz überwiegend eine Einbahnstraße. Mehr als dass man seine Vorstellungen ankündigt, findet in der Regel nicht statt. Das Burgtheater hat mir gerade ein sagenhaft billiges Platzkontingent für Sunny Boys auf den teuersten Plätzen angeboten. Was soll ich mit 150 Eintrittskarten, 7 Euro per Stück, um zwei meiner Lieblingsschauspieler, Gert Voss und Ignaz Kirchner in Action zu sehen?

Was kann das Theater für das Netz tun? Fragen wir erst einmal, was das Theater kann, und das ist nach 4000 Jahren ein bisschen mehr geworden als damals. Manchmal denke ich mir, dass es da eine Urquelle geben muss, um es einmal ganz lieb zu formulieren: Theater ist die kleine Welt, auf der die große Probe hält. Heute setzt man Theater nicht nur für den allstädtischen Barocktempel und den Bauernschwank ein, sondern auch für vielfältige soziale Prozesse bis hin zur Familientherapie und auf der Suche nach Lösungen in Konflikt-beladenen Teams und in Unternehmen, die kurz vor der Pleite stehen.

Bei den Sims, einem sattsam abgenudelten Computerspiel, kann man den Willen der handelnden Personen ausschalten. Die gehen dann nicht aufs Klo, sondern pissen auf den Teppich, wenn sie müssen. Wenn die anderen Personen nicht aktiviert werden und üblicherweise ungerührt beim Pissen wegschauen, muss man selber aufwischen. Das gibt Punkteverlust. Das Spiel wäre auf dem Theater unglaubwürdig. Es ließe sich als töricht auf der Bühne wunderbar bloßstellen. Aber sonst wäre eine Reaktion auf das seltsame Verhalten des Teppichpissers schon angebracht. Wenigstens Empörung.

Stefan Göbel und Sebastian Sauer basteln an einer Installation für das Frankfurter Senckenbergmuseum. Eröffnung ist im November. Dort stehen Skelette von Dinosauriern herum. Mit Hilfe eigener Software sollen die Knochen virtuell auf einem kleinen gegen die Knochen gehaltenen Palm-Computer Fleisch und Blut werden, atmen und herumlaufen. Die Hautfarbe kann man sich aussuchen, wunderbar. Sie suchen noch nach einem Pumuckl, der durch das Museum führen soll und bemängeln, dass er noch keine Emotionen hat. Meine Idee, die Zeichner des Pumuckl in einen Theaterworkshop zu schicken, um individuelle Haltungen sichtbar werden zu lassen, hat sie begeistert.

Ich habe dort im Louvre das Grazer Kindermuseum präsentieren dürfen. Das habe ich immer als Theaterinszenierung begriffen, natürlich nicht so, dass da mit Fanfaren ein roter Vorhang gehoben wird. Obwohl ich mir in letzter Minute von der Architektin Hemma Fasch Fotos vom Baufortschritt per E-Mail zukommen ließ und allen auf einem mir fremden Apple-Computer präsentieren konnte, fragten mich immer wieder die Leute, ob das jetzt eine Kopfgeburt von mir sei. Das war anfangs eine Kopfgeburt, aber von vielen aus verschiedenen Disziplinen - im Gegensatz zu anderen Museen, die eine große Sammlung oder ein abgesoffenes Bergwerk zu revitalisieren haben, voraussetzungslos. Das Grazer Kindermuseum war, kann man jetzt sagen, eine Netzgeburt. Wenn es nach mir geht, wird es den virtuellen Schwebezustand, gespeist von kindlicher Fantasie immer beibehalten dürfen.

Ich habe vor, das Grazer Kindermuseum zu einem international beachteten Kompetenzzentrum für Spiel zu machen. Das funktioniert praktisch nur virtuell und mit dem Nachtzug von Zürich nach Graz. Schlüsselgewalt habe ich nur für den Zug. Ich habe Angst, dass man ihn abschaffen könnte, den Zug zur großen weiten Welt, und dass man sich mit Sandkastenspielen im Grazer Augarten begnügen könnte. Das stößt mir bitter auf. Die ersten Stimmen werden laut: Wozu? Wofür so viel Geld ausgeben, um letztlich die Kinder vor dem Museum in die Matschkiste zu stecken und nichts anderes als im feuchten Sand buddeln zu lassen? Und unter der Hand geht der Abenteuerspielplatz von Fratz-Graz an die Autoversuchsfabrik List, um daraus Autoabstellplätze für die Mitarbeiter zu schaffen, die kein Fahrrad haben. Steht am Donnerstag auf der Tagesordnung des Grazer Gemeinderats. Also heute und hier, Tatort Graz, diesem schäbigen Nest politischer Unkultur, derweil am europäischen Lametta zupfend, um die größten Löcher im Kopf zu bedecken. Nächstes Jahr kriegt die Stadt einen Haufen Geld und weiß es nicht einmal. Tourismusabgabe ist nach dem Kulturjahr fällig. Her damit!

Meine Studierenden haben mir nach einem Theaterworkshop vorgeschlagen, Radioprogramm mit blinden Menschen zu machen. Christian Nowak, von Beruf Unternehmensberater, hat darauf gleich ein Hörspieltheater nach dem Vorbild der Non-Stop-Wochenschaukinos in der Grazer Innenstadt vorgeschlagen und wir haben auch gleich dessen Wirtschaftlichkeit überprüft. Vorn ein Kaffeehaus und geht schon. Gerade bei einem Radioprogramm ist Teilhabe von überall wichtig. Ohne das weltweite Netz wäre das mühsam. Alles könnte wunderbar laufen. Wir werden sehen.

Es gilt noch abgesehen von der jämmerlichen Software einen alten Streit zu überwinden, nämlich den Streit zwischen denen, die Film und denen, die in Österreich Theater machen. Auf einem Filmfestival in Wels vor vielen Jahren kam ich mir gefoppt vor als ausgestellter Theatermacher, der sich zu den Niederungen des Films herablässt – Ausgeburt eines Minderwertigkeitskomplexes. Die Filmszene in diesem Land habe ich selten so albern erlebt wie damals. Das ist ein wirklicher Schaden. Denn für Netzadaptierungen brauchen wir dringend Leute, die mit Bild und Ton umgehen können und keine aufgeregten Jammerlappen, die um ihr Ego zu salben, harmlose Bürger vor die Kamera zerren, um sie in ihrer Einfalt vorzuführen. Das ist zutiefst schäbig. Aber man gewinnt Filmpreise damit.

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Hans Fraeulin

Was dem Netz abgeht, ist der Inhalt, sei es eine Sammlung von Teddybären, sei es ein seltsames Bauwerk oder eine abgesoffene Mine, in die man damals vorzugsweise Kinder hineinschickte, um nicht an den Deckenbalken anzustoßen.

Es sind diese Geschichten zu bergen und für das Internet zugänglich zu machen. Sonst verkommt das weltweite Netz in einem grenzenlos albernen Lügengeflecht. Ich nenne zwei Beispiele, den Gesetzesstein des Hammurabi und Bambule. Den Stein kann man im Louvre außer mittwochs bewundern. Dass es davon mehrere Exemplare gibt, will niemand wahrhaben, regt sich darüber auf, dass er aus dem Nationalmuseum von Bagdad gestohlen worden sei. Freilich, aber seit 100 Jahren im Louvre – und im Kloster auf dem Montserrat.

Über Bambule findet man im Netz zehn Tausend Hinweise, darunter kein einziger, der das Wort erklärt, ins Deutsche übersetzt. Nicht einmal die Betreiber des Spielplatzes in Hamburg, die mit Bambule firmieren, wissen, woher das Wort kommt und was es bedeutet. Sie berufen sich auf einen Film mit diesem Namen von Ulrike Meinhof – Terroristin der RAF.

Sie hat das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet. Bambule ist der übliche Gefängniskoller. Randale ist das, was auf dem Spielplatz in Hamburg passiert ist, aber auch anderswo passieren kann. Beides ist Rotwelsch und kommt im Netz kaum vor, kein Wunder, ist man doch immer noch damit beschäftigt, das Bildungsgut des situierten Mitteleuropäers einzuspeichern. Gaunersprache kommt im Netz noch nicht vor. Das beruhigt – Gauner wie mich. Und es erregt vielleicht Leute am anderen Ende der Welt, die nachforschen, wie das fahrende Volk kommuniziert. Das ist aber zurzeit nicht zu befürchten.

Es liegt an uns selbst, das weltweite Netz mit dem zu füttern, das uns am Herzen liegt und weitergegeben werden soll. Mit Martin Krusches Hilfe versuche ich alle Leute auf 100 Jahre Bloomsday einzustimmen und animiere sie mitzumachen. Das lässt sich nicht schlecht an. Wir planen einen Charivari, das ist eine Art Prozessionstheater, vom Grazer Medienturm zum Schauspielhaus, wo der Schlussmonolog von Molly Bloom ablaufen soll. Das weltweite Netz zwingt einen da zu einem bescheidenen Auftreten. 240.000 Hinweise gibt es für den Doomsday, den Jüngsten Tag aus der Google-Suchmaschine zu holen, einfach, weil man nicht weiß und darüber spekuliert, wann der Termin sein soll. Bloomsday ist am 16. Juni. Aber immerhin 24.000 Hinweise – ganz schön was los in der Welt an Bloomsday. Filtert man die deutschsprachigen Beiträge heraus, wird es peinlich: so um die 520 Hinweise – fast alle belanglos, als wolle man in Deutschland und Österreich den jüngsten Tag verschlafen. Immerhin eine Herausforderung für das Netz. Es liegt jede Menge Öffentlichkeitsarbeit an, um diesen Nationalfeiertag von Sydney bis New York in Graz und Wien bekannt zu machen. Das gehört zur Theaterarbeit dazu.

Irmtraud Morgners „Troubadura...“ gehörte vor 20 Jahren zu den ersten ernsthaften Versuchen, die Linearität eines Buchs zu verlassen. Sie forderte ihre Leserschaft auf, nach Belieben den unterschiedlichen Erzählsträngen zu folgen. Aber bald war ich das Hin- und Herblättern Leid und brauchte schließlich zwei Jahre, um ihr Buch zu lesen. Das weltweite Netz mit seinem Aufbau der Websites und den Hyperlinks gestattet nun ein rasches Navigieren und eine Lektüre nach eigenem Geschmack. Das erleichtert nicht nur wissenschaftliches Arbeiten, sondern fordert geradezu heraus, eine lineare Erzählweise zu verlassen. Das ist nicht leicht, wie ein Erzählwettbewerb der ZEIT für das Netz ergab. Wann haben sie zuletzt einen Film gesehen, in dem zwei oder mehr Szenen gleichzeitig zu sehen waren? Im TV läuft zur Zeit 24 Stunden mit Kiefer Sutherland, in der manchmal bis zu drei Szenen gleichzeitig zu sehen sind. Vehikel für diesen dramaturgischen Kniff ist die Vorgabe einer vollständigen Dokumentation der Ereignisse in Echtzeit. Echtzeit ist eine alte Hollywood-Konvention, die man zu diesem Zweck exhumierte.

Beim Theater können Sie gar nicht anders, als in mehreren Gleichzeitigkeiten zu denken. Selbst bei einem Ein-Personen-Stück wie Becketts Krapps letztes Band hat man sich zu überlegen, was mit dem Band geschieht, während Krapp redet. Sonst sind es die anderen Personen auf der Bühne, die leider meist als unbeteiligt und stumme Beobachter inszeniert werden. Ganz schlimm ergeht es da Nestroy, wenn sein „Zu ebener Erde und im ersten Stock“ inszeniert wird. Meistens wird abwechselnd in den Stockwerken das Licht an- und ausgeknipst. Wir haben uns während des Regiestudiums den Scherz erlaubt, drei Stücke Becketts, die von ihm als Endlosschleifen konzipiert waren, gleichzeitig laufen zu lassen. Mathias Grilj schrieb nachher in der Kronenzeitung, er hätte das Gefühl gehabt, überall zu spät zu kommen. Nun hat Sasha Waltz eigene Stücke für den steirischen herbst inszeniert, die gleichzeitig ablaufen, und verkündet keck im Radio, man könne gar nicht alles an einem Abend sehen.

Die Beispiele mögen zeigen, dass im Theater ein für die Netzkultur ideales Strukturpotenzial schlummert, das von den Theaterleuten auf der Bühne viel zu wenig genutzt wird, im weltweiten Netz von ihnen so gut wie gar nicht. Das ist auch der Grund, weshalb Stoffe, die es über belanglose Anbahnungs Chats hinaus wert sind, verhandelt zu werden, selten im Netz zu finden sind. Wenn Theaterleute außer Spielplanankündigungen für das Netz etwas schreiben, ist es meistens etwas kulturpolitisches. Wie schön wäre es, wenn sich zwei oder mehrere Autorinnen an ihr elektrisches Schreibgerät begeben würden und sich mit Sätzen befetzen und damit einen Konflikt ausverhandeln, der es wert ist, von einer großen Gemeinde von Usern mitverfolgt zu werden. Dabei wird es sehr schnell mehrere Kriegsschauplätze geben und auch die Zahl der Beteiligten wird wachsen. Wer sich darunter nicht viel vorstellen kann, dem sei geraten, einmal die Diskussionsforen der Kopfschrauber auf der sehr nützlichen Website des ACC zu besuchen, wo leidenschaftlich über die Ursachen des Übels gestritten wird und wie man seinen Citroen am besten repariert.

Graz, am 18.9.03

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