im Interview mit Martin Krusche
Wie engagiert man sich sinnvoll, wenn ein
Thema weitgehend tabuisiert ist, aber praktisch jeden Menschen betrifft? Wolfmayr sagt aus
langjähriger Erfahrung: „Jeder gehört zu einer Risikogruppe.“ Das meint:
rechnen Sie mit Betroffenheit. Es passiert einfach. Daß man körperlich, seelisch,
geistig Schaden nimmt, plötzlich nicht mehr in der Lage ist, seinen Alltag ohne fremde
Hilfe zu bewältigen. Für kurze Zeit oder für den Rest eines Lebens. Ob Krankheit oder
ein Unfall. Ob einfach: älter werden. Niemand hat die Garantie, davor bewahrt zu sein.
Wer hätte mit den Jahren nicht schon
einmal daran gedacht? Albtraum Nummer eins: hilflos werden. Albtraum Nummer zwei: in einem
Pflegeheim landen. Wolfmayr: „Wer will das? Niemand!“ Dennoch ist die steirische
Sozialpolitik von diesem einen „Generalkonzept“ als Antwort auf die Probleme
dominiert: Heime. Wolfmayr: „Eine offene Diskussion des Themas findet nicht statt.
Älter werden, krank werden, hilflos werden, da heißt es einfach: wir brauchen mehr
Pflegeplätze. Und: was kostet uns das?“
Der Geschäftsführer der Gleisdorfer
„Chance B“ vermißt dabei eine Debatte über andere Wege, auf solche Probleme zu
reagieren. Etwa über den Ausbau von mobilen Hilfsdiensten. Wolfmayr hat einen gediegenen
Überblick, was die Politik hier leistet und was nicht. Aus seiner Funktion als Präsident
der „Steirischen Behindertenhilfe“. Das ist ein Dachverband von
Behindertenorganisationen und Dienstleistern.
„Soziales wird bei uns gerne so
verstanden, als ginge es bloß um Ansprüche, Leistungen und Kosten. Aber fragen wir uns
doch einmal: wie wollen wie denn leben, wenn wir einmal älter oder behindert sind? Was
gehört denn mindestens zu den Lebensqualitäten eines jeden Menschen?“ Er betont
erneut die Bedeutung, seinen Alltag selbst bewältigen zu können. Wer das Glück hat,
darin ein Leben lang unbehelligt zu bleiben, wird spätestens im hohen Alter und dann
mindestens teilweise andere Erfahrungen machen. „Aber in welcher Situation finden wir
uns dann wieder?“ Wenn man Hilfe braucht und es ist keine verfügbar, kann das den
direkten Weg in eine Pflegeeinrichtung bedeuten. Von wo viele keinen Weg mehr zurück in
ein eigenes Leben finden.
Wolfmayr: „Es fehlen uns Rituale und
Routinen, die kulturell sichern, wie mit Notleidenden umgegangen wird.“ Das ist ein
gesellschaftliches Problem, dessen Lösung man nicht einfach dem Staat überlassen kann. |
Franz Wolfmayr
Und es spiegelt die aktuelle politische
Diskussion wieder. In der laut Wolfmayr andere Konzepte und praktische Erfahrungen aus
anderen Ländern, wie etwa England oder Schweden, ignoriert werden. Man müsse auch
darüber reden, daß jedes Gemeinwesen ohnehin die Kosten zu tragen habe, wenn Menschen
hilflos werden. Es gebe keinen Zweifel, daß Pflegeheime dabei die teuerste Antwort seien.
Jede Gemeinde muß im Rahmen der
Landesgesetze für 40 % der anfallenden Kosten aufkommen. Wolfmayr: „Wir haben in der
Chance B seit jeher das Prinzip vertreten: mobile und ambulante Hilfe geht vor
stationäre.“ Freilich seien stationäre Einrichtungen wie Krankenhäuser
unverzichtbar. Aber eben möglichst nur kurzfristig. Für dringende Interventionen. Nicht
zur „Verwahrung“ von Betoffenen. Was laut Wolfmayr ja auch wirtschaftlich ein
Unfug sei. Die beste Sicherung vor einem dauernden Verbleib in Pflegeheimen sei in den
meisten Fällen eine zeitgerechte, möglichste intensive und effiziente Hilfe. Mit dem
Hauptziel, dem Betroffenen einen Verbleib in der vertrauten Lebensumgebung zu
ermöglichen. Und ihn zu möglichst viel Selbstverantwortung zu ermutigen, zu befähigen.
Die Chance B unterstützt auf diese Weise jährlich etwa 850 Personen in der
Oststeiermark. |