30. Juli 2011 Na freilich mag ich nicht unausgesetzt bis zu den Knien in Kummer waten. Es gibt
richlich andere Themen, die mich anziehen. Aber das Massaker von Utøya hat eine Menge
Gespenster in Gang gesetzt. So finde ich momentan sehr vieles, womit ich mich gerade
befasse, mit dem verknüpft, was rund um diese Vorgänge via Medien zur Sprache kommt.
Erstaunlicherweise ereignet sich das nicht einmal
annähernd so in realen Begegnungen. Damit meine ich, daß mir in meinem Umfeld eine
irritierende Diskrepanz zwischen der Dimension des Verbrechens und der Gesprächslaune
meiner Mitmenschen auffällt.
Anders ausgedrückt: Ich höre auffallend wenig
substanzielle Aussagen zu dieser Geschichte. Ist da eine Ungeheuerlichkeit, die uns
kulturell eher überfordert? Lese ich deshalb so viel an Floskeln und Plattitüden in
diverser Leserpost?
Vor meiner Haustür liefen eben noch die Vorbereitungen
für den "Kirta". Gestern hat die Festivität begonnen. Ein Streifzug
durch die Menge zeigt mir all die Aufgeregtheit, vergnügte Menschen, die sich von diesem
Wochenende einen großen Brocken Freude erlauben.
Wehrhaftigkeit ist da draußen gerade auch ein Thema. Wir
sind so sehr davon geprägt, uns vor allem einmal Gewalt als Antwort auf Gewalt
vorzustellen, daß jenen gerne mißtraut wird, die überzeugt sind, diese Lösung sei das
Problem, dessen Lösung sie vorgibt.
Viele Menschen haben keine Sprache für das, was sie
quält. Manche können mit diesem Mittel aber erstaunliche Reaktionen zeigen. Ein
historisches Beispiel: Es gibt ein berührendes Gedicht, mit dem der Autor Rudyard Kipling
auf den Tod seines Sohnes reagiert hat:
"Have you news of my boy Jack?"
Not this tide.
"When d'you think that he'll come back?"
Not with this wind blowing, and this tide.
"Has any one else had word of him?"
Not this tide.
[...] [Quelle]
John "Jack" Kipling war kurz nach seinem 18.
Geburtstag in der Schlacht von Loos gefallen. Dort hätte sich der junge Offizier kaum
aufgehalten, wenn nicht sein Vater davor so engagiert gewesen wäre, den sehr
kurzsichtigen Buben gegen die Ablehnung der Musterungskomission unter die Soldaten zu
bringen.
Selbstergriffenheit und prächtig inszenierte Versionen von
"Nationalstolz" haben das Potential, großes Unglück aufzubauen. Die
Überlieferung besagt, daß Rudyard Kipling sehr viel Energie und Pathos darauf verwandt
hat, a) in seinem Sohn den Willen zum Militärdienst zu entzünden und b) jene Barrieren
einzuebnen, die seinem Jack Bürokratie und militärische Einschätzung entgegenstellten.
Kurz, bei der Truppe wollte man den Buben wegen seiner schwachen Augen nicht haben.
Pathos. Was für eine Tretmine! Dabei hatte England damals
allen Grund, sich zügig gegen die deutschen Aggressoren aufzustellen. Aber was mag das
nun mit dem Täter von Utøya zu tun haben?
Pathos und Pathologie haben die gleiche Bedeutungswurzel.
Die Leidenschaft und das Leiden liegen all dem zugrunde. Wir sind reich an Erfahrungen,
wie sich das auswirkt, wenn wir solche Dispositionen nicht mit sozialen und kulturellen
Mitteln eingrenzen.
Daß Österreichs Bundespolitik auf Anhieb ihr Heil in
einem Mehr an struktureller Gewalt sieht, überrascht mich nicht, erstaunt mich aber. Der
Extremfall läßt sich ohnehin durch kein Mittel der Welt ausschließen. Das wußten wir
schon vor Utøya, das lehrte uns zum Beispiel Franz Fuchs. In solchen Belangen
wird auch prospektiv nichts zu schaffen sein, denn selbst wenn die Überwachung dieser
Gesellschaft das Niveau von Polizeistaaten überschritten hätte, wer wäre in der Lage,
die unfaßbare Datenmenge aus solchem Verfahren angemessen zu verwerten und zu deuten?
Das sind Spießerträume. Die führen zu keinen adäquaten
Ergebnissen. Norwegen hat es eigentlich schon klar gemacht, denn von dort hören wir, daß
eine offene Gesellschaft auf diesem Status bestehen möchte und daß Verantwortliche ganz
klar gegen die Verschärfung von Überwachung und das Runterfahren von Bürgerrechten
stehen.
In der Science Fiction-Schmonzette "Eyeborgs" gibt
Danny Trejo zur Abwechslung einmal keinen Killer, sondern einen Instrumentenbauer, der
sich einem tyrannischen System entgegenstellt.
An einer Stelle des Filmes verweist er salopp auf Benjamin
Franklin: Wer Sicherheit über Freiheit stellt, verdient beides nicht. Franklin
soll das im 18. Jahrhundert etwas differenzierter ausgedrückt haben: Those who
would give up Essential Liberty to purchase a little Temporary Safety, deserve neither
Liberty nor Safety. |