Von
Martin
Krusche
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Was sich über gesellschaftliche und historische Prozesse sagen läßt, ist vor
allem eines: Sie vollziehen sich ungleichzeitig. Pragmatische Politik muß solche
Umstände wohl einebnen, um Handlungsfähigkeit generieren zu können so heißt es.
Für kulturelles Engagement auf der Höhe der Zeit, besteht dieser Zwang nicht.
Ganz im Gegenteil.
Das bedeutet vor allem: Gestützt auf laufende Theoriearbeit, ständig beeinflußt von
wechselnden praktischen Erfahrungen, entstehen Konzepte und Diskussionsbeiträge, die
stark von kleinräumigen, regionalen Bedingungen beeinflußt sind. Das bedeutet aber
nicht: Enge. Was sich dabei auftut, ist ein Ganzes von vielen Räumen (als Aufenthaltsort
einer Gesellschaft). Dieses Ganze ist keine "Supercity", kein
"Megazentrum". Es ist ein neuer Kommunikations- und Handlungsraum, dessen
aktuelle Bedingungen und Perspektiven unsere vertrauten Vorstellungen von Sozietät,
Kultur und Politik verschieben. Ich nenne es Neue Räume. (Lebens-) Räume kulturellen
Geschehens, die vom alten Denkmodell "Zentrum / Provinz" nicht mehr gefaßt
werden.
Ungleichzeitigkeit
Worauf liegt das Augenmerk, wenn man jenseits der (alten) Zentren Peripherie,
Provinz ein kulturelles Engagement entfaltet, das den aktuellen, radikalen
Veränderungsschüben rechnung trägt? Vor allem darauf, nicht neuen Wellen einer
kulturelle Urbanisierung der Provinz zuzuarbeiten. Auch das ist historische Episode: Daß
der Provinzmensch mit offenstehendem Maul die Stadtleute bestaunt.
Ich verwende den Begriff "kulturelles Engagement" für ein Vorhaben, das
künstlerische Praxis ebenso beinhaltet wie Vermittlungsarbeit, das Theoriearbeit ebenso
meint wie (kultur-) politisches Handeln. Ich vermeide Begriffe wie
"Kulturarbeit", weil mir der darin gebundene Arbeitsbegriff vorerst noch zu
unreflektiert erscheint.
Kulturelles Engagement
Es geht dabei um eine reale Existenz, die sich nicht bloß in einer noblen Distanz zum
Alltag zu entfalten vermag. Das kulturelle Engagement ist auf Raum und Region
konzentriert, betont aber auch die überregionalen Verknüpfungen. Raum meint hier die
nächste, unmittelbare Umgebung des eigenen Lebens- und Arbeitsraumes, des Ortes, an dem
man sich eingerichtet hat. Region meint wesentlich ein konventionelles Bezugsgefüge, das
einem durch dessen Vorgeschichte als zusammengehörig angeboten wird. Hinterlegt durch
jene Raumvorstellung, die durch die Reichweite eigener Wahrnehmung und durch die Grenzen
eigenen Handlungsvermögens entsteht. (Als bewußte Abgrenzung zur Scheinkompetenz, die
aus dem Data-Overflow weltweiter Berichterstattung und Telekommunikation entsteht.)
Leute wie ich bilden quer durchs Land keinen Pool, keinen Verband, keine
neue IG. Was man gründen kann, ist alles längst gegründet worden. In meiner Umgebung
sucht niemand neue Mitgliedschaften. Daß Kooperation wichtig ist, haben wir
längst geklärt. Ob und wie man sich folglich formieren soll, steht auf einem anderen
Blatt und ist Gegenstand neuer Vorhaben. Aus den Erfahrungen zeigen sich da drei
wesentliche Problemzonen, die nach aktuellen Lösungen verlangen: Informationsfluß,
Transparenz und Kommunikation.
Meine bisherigen Erfahrungen legen den Schluß nahe, daß wir zeitgemäße Formationen
sehr gut realisieren können, indem wir das über Informationsgebarung und Kommunikationsverhalten
regeln. Damit verlassen wir zwar die altvertrauten Formen von Verbandswesen, sind aber
wesentlich näher an dem, was eine EDV-gestützte Community sein kann. Es ist
längst Zeit für neue Schritte in neue Räume.
Auch, weil unser eigenes Milieu inzwischen Funktionärspersonal hervorgebracht hat, das in
gutem Einvernehmen mit Politik und Verwaltung zwar für uns aber nicht mit
uns handeln. Gelegentlich, indem sie uns am Rande aller Redlichkeit als Legitimation
ausnutzen ... für eher private Partikularinteressen.
Neue Ansätze
Wir brauchen offene Konferenzen und Plattformen, die Offenheit nicht bloß als
Bannerspruch führen. Themen- und projektbezogen. Ohne Zugangsbeschränkungen. Mit
offensivem Informationsgebaren. Diese tief in uns eingeschriebene Unart, sich über die
Definition und Abschottung von "Herrschaftswissen" Vorteile zu holen, ist ja
nicht per Dekret zu mildern. Da müssen sehr konkrete Taten gesetzt werden. Dabei hilft es
wenig, wenn allein schon durch Technologieschübe diese Ära der Wissensvorsprünge zu
verblassen beginnt.
Man gehört zu offenen Konferenzen durch Absichtserklärung und aktive Teilnahme. Diese
Plattformart, vorzugsweise webgestützt, verlangt nur so viel an Institution: Begleitende
Dokumentation als Orientierungshilfe und wenigstens ein, zwei Leute, welche die
Kontinuität betreuen. Kein strukturelles Delegationsprinzip und keine
Funktionärsschicht, die als "Zwischendecke" eingezogen ist. Die Teilnehmenden
der Konferenz stehen in direktem Kontakt zu jenen, an welche die Konferenz adressiert ist.
Träume? Das behaupten nur noch die Verschlafenen. Und die Konservativen, die wir
inzwischen natürlich auch hervorgebracht haben.
Man kann sagen: Wir konstituieren uns durch adäquates Kommunikationsverhalten. Das
genügt. Das funktioniert. Wir sorgen dafür, als lokale Communities Wirkung zu
entfalten und mehrere solcher Communities wie auch Einzelpersonen informationell zu
vernetzen; folglich ebenso (sporadisch) überregionale Kooperationen zu realisieren. Wie
dabei die einzelnen Leute ihr Engagement und ihr Erwerbsleben konzipieren, bleibt ihnen
überlassen. Wichtig ist es allerdings, sich weiterhin an realen Tischen real zu treffen.
Kunst, Kultur etc.
Bei aller Verschiedenheit von Intentionen verbinden einen zentrale Anliegen. Etwa das
Vorhaben, jenseits traditioneller Zentren Kristallisationspunkte vielfältigen kulturellen
Geschehens zu schaffen und zu sichern, ohne sich dabei in ein Konkurrenzverhältnis
mit solchen Zentren zu bewegen. Diese Konzentration auf das Regionale wird freilich mit
überregionalen Bezügen und Verknüpfungen ausgestattet.
Auffallend viele unter uns sind gleichermaßen als Kunstschaffende wie als Vermittelnde
und Veranstaltende tätig vor dem einfachen Hintergrund, daß man hätte in Zentren
abwandern müssen, falls es einem nicht gelungen wäre, Beiträge zu leisten, durch die
regional angemessene Strukturen und jenes Klima entstehen, in denen wir überleben
können. Ob es jemandem gelingen mag, aus solchen Bedingungen heraus, von solchen Orten
her, weltbewegende Beiträge zur Kunstgeschichte zu leisten, ist für einen wie mich eine
völlig irrelevante Frage. Der Primat des herausragenden Genies ist in unserem
Milieu eine ganz unerhebliche Konstruktion.
Die künstlerische Praxis führt nicht ausschließlich, aber auch in
Teamsituationen und längerfristige Prozesse. Der Teambezug und das Prozeßhafte sind
Anlaß für inhaltliche Anregungen, soziale Erfahrungen und haben eine weitere, wichtige
Funktion. Sie zielen auf eine wachsende Reichweite (der Arbeiten), wie sie sonst nur im
Rahmen konventioneller Marktstrukturen realisiert werden kann. All das geschieht mehr oder
weniger im Wechselspiel mit den anderen Aspekten des kulturellen Engagements.
Community
Sollte man knapp zusammenfassen, was uns ausmacht, ließe sich folgendes redlich
behaupten: Wir sind eine Community, die mit meist sehr geringen Mitteln äußerst
effizient arbeitet und dabei in der Verfolgung ihrer Intentionen sehr vielfältige
Kompetenzen entwickelt. Spezialistentum ist da eher untypisch und manchmal
kontraproduktiv. Während der "klassische Genietyp" des Kunstgeschehens eine
nennenswerte Vorgeschichte mit vielfältigen Traditionen hat, die aus der Feudalzeit,
über die bürgerliche Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts in die Gegenwart verzweigen
(und wohl auch in eine Zukunft weisen), während vieles an Avantgarde sich also von
antiquierten Strukturen ableitet (und in antiquierten Strukturen überhaupt erst zu
etablieren vermag den Markt, die Öffentlichkeit erreicht), verkörpern wir sozial-
und kulturgeschichtlich eine Novität ... was nur insofern von Belang ist, als wir uns
Möglichkeiten und Strategien sehr mühsam erarbeiten müssen, ohne uns auf nutzbare
Vorgeschichten stützen zu können. (Das Mühsame ist allerdings keine brauchbare
Grundlage mehr zum Erwerb von Sozialprestige. Anders ausgedrückt: Wen interessiert schon,
daß es schwierig ist? So ist eben der Job.) Traditionen?
Die Tradition des Vereinslebens als erster Basis einer Massenpolitisierung und kultureller
Organisation auf Massenbasis ist schnell ausgereizt, zumal sie hierzulande in hohem Maße
der überhitzten Variante von Nationbuilding gewidmet war. All das zusätzlich zu
den üblichen Belastungen künstlerischen Schaffens, über die hier keine weiteren Worte
verloren werden müssen. So sind neue Qualitäten gefragt. Die Individualgröße des
einsamen Genies generiert ebenso verläßliche Nervensägen wie der rudelorientierte
Institutionsmensch.
Und während vor allem die 50er-Jahrgänge noch sehr dazu neigen, einen Großteil ihrer
Arbeitskraft an starre und formale Wertschätzungsrituale zu verschwenden, um ein
soziokulturelles Kuscheleck zu simulieren, an das sowieso niemand glaubt, scheinen viele
jüngere Leute wesentlich direkter zur Sache zu kommen.
Anregende neue Formationen haben Akteurinnen und Akteure, deren Haltung nicht darauf
abzielt, sich aus alltagsnotwendigen und zweckrationalen Anforderungen zu suspendieren.
Derlei Freistellungen bleiben manchen Momenten der künstlerischen Praxis vorbehalten. Was
uns als Community ausmacht, wird in einem wachsenden Bemühen um Transparenz und
Kommunikation deutlich. In einer offenen Gemeinschaft, die sich nicht formiert, indem sie
einfach alte Organisationsformen fortschreibt: Lagerbildung und Lagerbindung,
Abgrenzungen, Funktionärswesen, Wissensmonopole, verschlossene Verhandlungszimmer etc.
Was ich hier bewußt großzügig angelegt als "das Milieu"
verstehe, ist im Kern eine Szene von Einzelpersonen und von autonomen Kulturinitiativen
... allerdings mit vielfältigen Verzweigungen. Ohne programmatische Grundsatzkonzepte, an
die alle gebunden wären. Sehr offen. Mit starken Positionen in der Provinz. Oder
zumindest: dezentral. |
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