[Der
Essay Minimundus]
Helmut Schranz
tempi passati, nebel aktuell |

|
0.
was möchten Sie wissen? nein, ich komme nicht aus graz, ich bin nach graz gekommen.
seither komme ich von graz immer mal wieder weg. und auch zurück komme ich dann, statt
hin und weg also weg und hin, weg, hin.
interessiert Sie das?
ich sehe, wir verstehen uns.
was können Sie auch dafür, dass ich schreibe. seit meiner volksschulzeit kann ich das,
schreiben, und das obwohl ich auch noch meine mittelschulzeit ausserhalb von graz
verbracht habe. am lande.
am land ist es schön. ich fahr gern hin. und gern weg.
so schön ist es in der stadt. aber gar so schön nun auch wieder nicht.
im nebel sind beide gleich.
wie Sie bestimmt wissen, hat es in graz ja sehr oft nebel. wie auch am land, und das weiss
ich, weil ich ja vom land hergekommen bin, (vielleicht auch Sie?), da ist der nebel
häufig und dicht. der nebel kommt über nacht und tagelang geht er nicht weg. das haben
die nebel über dem land und über graz gemeinsam. beide nebel sind zäh.
ich finde die nebel von graz umgebung und die nichtländlichen grazer nebel ungefähr
gleichwertig grau, grauslig, benebelnd eben.
die nebel von st. josef kenne ich nicht.
Sie wissen ja, ein vorgänger oder fussgänger hat die nebel vor graz beschrieben. st.
josef liegt offenbar in einem solchen nebelloch vor graz, das ebenso benebelt ist wie graz
selber.
wie interessant! wie interessant!
graz und umgebung sind nebliges land!
0.
unlängst, auf einem vom kulturzentrum bei den minoriten veranstalteten lesefest (eine
parallelaktion zur eröffnung von "Wetten dass ... 3x0 ... Graz fliegt!") habe
ich jenen st. josefer fuss- und parteigänger seine nebelphilosophie verbreiten gehört.
"Jede andere Kulturhauptstadt hätte sich damit gerühmt, wodurch sie es geworden
ist", und er meinte damit die heute noch lebenden herren aus den grazer 60er-jahren,
welche das glück hatten, aus dem - internationalen entwicklungen weit hinterher hinkenden
graz den kulturellen fascho- und ständestaat-mief wegfegen zu können, bevor 's ein paar
andere um ein paar jährchen später getan hätten. die zeit war ohnedies für
veränderung reif, auch in graz und am land um graz.
40 jahre später bedauert jener st. josefer fussgänger "Im Nebel vor Graz" nun
angeblich vertane feierliche festschreibung einstmaliger lokaler modernität: "Graz
hätte die Chance gehabt, der ganzen Welt zu zeigen, was Graz-Kultur ist" und er
meint damit, die taten jener herren aus den 60ern, die sie noch bis in die 70er hinein
einigermassen kraftvoll, die grazer szene integrierend, zugleich mit übers lokale
hinausgehender wirkkraft gesetzt hatten, wären geeignet, im grazer kulturhauptstadtjahr
den anschein einer lebendigen kunstszene zu simulieren.
meine einschätzung ist eine andere: seit den 80ern ist, unter der führung eben jener
herren, die sogenannte "Graz-Kultur" sanft entschlafen, unterbrochen nur von
einem heftigen scharmützel rund um die präsidentschaft im forum stadtpark gegen ende der
90er. an diesem final showdown zeigte sich:
man hatte die eignen kulturellen machtpositionen befestigt und gegen nachkommende,
jüngere künstler+innen erfolgreich verteidigt.
seither ist der stillstand der grazer kulturszene für jedermann+frau offen sichtbar. die
von jenem st. josefer beschworene "Graz-Kultur" wird zu einem freilichtmuseum
zwar anzuerkennender, aber längst vergangener leistungen ausgebaut und per
kulturhauptstadtjahr befestigt.
fast mit zärtlichem sentiment möcht ich jenem nebelbewohner und fürsprecher der
vergangenheit zurufen: hätt er bloss nur über kumpitz geschrieben, er wäre ein
philosoph geblieben.
0.
aber zurück zum obengenannten lesefest. sind Sie noch interessiert? ich beeile mich!
etwa 200 publikums lauschten den im viertelstundentakt wechselnden 18 grazer autor+innen
(und ich war einer von ihnen). dieses setting im barockprunksaal wollte, laut
programm-vorspann, die frage ausloten "Kann Graz für sich den Titel
Literaturhauptstadt beanspruchen?" und ich wollte mich eines kurzstatements
(1minute30) nicht entschlagen -
und ich mein[t]e: nein.
graz hat alte leute, die alte texte schreiben, und graz hat junge leute, die auch - alte
texte schreiben.
ein literarischer aufbruch - "transgarde",
wie sie ende der 60er hier passierte - ist nicht in
sicht. dafür gibt es bald ein literaturhaus zur be-sichtigung
des musealisierten aufbruchs und für den transport
inter+nationaler quoten+neben\betriebs-literatur zum zwischenstop graz, literarische
provinz, - entgrenzte aufgenadelte provinzialitätensammlung, wo dichterinnen+dichter
aller länder - hiesige und dasige - einander gut' nacht lesen.
die honorarhöhen sind verschieden. ich nehme 200,- euro, du nimmst den betrag plus X oder
mal 0003, er sie es nimmt den steirischen staatspreis für literatur...
die jungen sind zaungäste und schreiben sich alt, bis der betriebszaun sie endlich
umschliessen wird, gute grazer weltklasse, -
willkommen am lesefest. (77sekunden) ich freu mich, dass sie mir zuhören werden, und ich
lese ihnen, ganz ohne betriebsauslotungs-ambition, eine "männerverbrennung" und
ein "sinnstiftengehen", gesamtdauer: 15 minuten und ein paar zerquetschte.
nun, das war mein statement an jenem lesefest. die dort angekündigten texte können, im
rahmen meines graz-tagebuchs, nicht abgedruckt werden, der raum ist begrenzt. jenes oder
dieses honorar wird die roten nebel meines kontostandes lichten helfen und ist zugleich
nur scheinbar privat. im literaturbetrieb ist alles so privat, dass nichts übrigbleibt.
aber falls es Sie interessiert: ja, ich werde mein geld u. a. auch zum wegfahren aus graz
verwenden, Sie erinnern sich: weg und hin.
helmut schranz
*1963, lebt als autor und kulturarbeiter in graz und wien.
mitherausgeber von perspektive - hefte für zeitgenössische literatur
zusammen mit r.b. korte, r. steinle, f. neuner und (bis ende ’02) s. egger.
<http://www.perspektive.at>
[dieser text soll(te?) im rahmen der reihe “tagebuch” bei der steirischen
kronenzeitung erscheinen]
[demnächst auch bei http://www.gangway.net
/ launch | präsentation: graz, 11.+12.6.2003] |