[Der Essay Minimundus]

Monika Mokre
Geschlechter, Kampf und Mythen

(Über eine sehr alte Geschichte)

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Unser Verständnis von der Wirklichkeit ist wie eine Baumkrone, sagt der Dekonstruktivismus. Wir sehen Äste und Verzweigungen und fügen durch unser Denken und Handeln neue Zweige hinzu. Den Stamm des Baumes können wir nicht finden, geschweige denn seine Wurzeln. Und einen neuen Baum werden wir auch nicht pflanzen – aber vielleicht, wenn alles gut geht, einen Ast in eine vernünftige Richtung legen. Eine derzeit vernünftige Richtung, um genau zu sein – wenn die Richtung nicht mehr passt, ist eine neue Astgabel nötig ...

Auf einem Ast einer sehr alten Baumkrone hängt ein Plakat, auf dem steht „1 Euro Party & Kampf der Geschlechter“. Kein schöner Ast, aber er hängt uns nun mal ins Gesicht. Und er hat einen langen Stammbaum. Sehr lang, so lang wie die Geschichte der Menschheit, sagen manche. Keine gerade Linie natürlich, auch hier gibt es viele Verzweigungen, die uns heute schon ganz unwahrscheinlich vorkommen. Oder wem ist vorstellbar, dass die Idee, dass sich Paare aufgrund romantischer Liebe finden sollten – diese Idee, die einen Großteil unseres Hoffens und Wünschens und Leidens prägt, für die gestorben und gelebt wird, auf der die Werbestrategien zahlreicher Industrien aufbauen – dass diese Idee gerade mal knapp 300 Jahre alt ist?

Doch das sind Details: Die Anziehung zwischen den Geschlechtern und der Kampf der Geschlechter sowie die Tatsache, dass in ihm stets und immer wieder die Frauen unterlegen sind – das sind Konstanten, wenn nicht der Geschichte der Menschheit, so doch schon seit sehr langer Zeit. Viele Behauptungen gibt es über die Wurzeln dieses Kampfes – die biologische Unterlegenheit der Frau, da sie physisch schwächer ist, oder die biologische Überlegenheit der Frau, da sie die Kinder kriegt – aber, wie schon erwähnt, bis zu den Wurzeln kommen wir nie.

Viele Erzählungen, Mythen und Geschichten haben sich in dieser Baumkrone verzweigt – eine von ihnen ist die der Amazonen. Ob es sie je gab? Nachweisbar sind jedenfalls Gräber von Kriegerinnen. Wie sie lebten, wo sie lebten, was sie taten? Falls sie denn je lebten, dann wohl zwischen 1200 und 300 vor Christus. Und was sie taten? Glauben wir den Geschichten, die über sie erzählt werden, so taten sie wohl nichts als kämpfen. - Doch das ist unwahrscheinlich; sie werden wohl auch gekocht, gegessen, geschlafen, Kinder bekommen und betreut haben ...

Falls es sie denn je gab. Doch eigentlich ist es auch unwichtig, ob es sie je gab. Ihre Funktion haben sie als Mythos, als weitverbreiteter Gründungsmythos, um genau zu sein. Jedes Volk der Antike musste irgendwann in seiner Vorzeit die Amazonen besiegt haben; dies war sozusagen die Eintrittskarte in die Antike.1) Der Sieg der Männer über die kriegerischen Frauen ist Bedingung des Gedeihens eines Volkes. Das andere Geschlecht muss unterworfen werden; erst dann ist Zeit für weitere Heldentaten.

Der spezielle Ast, auf dem wir die Amazonen anfinden, wird immer wieder gerne frequentiert. Wie nicht unüblich bei Mythen, wurde auch dieser gedreht und gewendet und von einer Geschichte für die siegreichen Männer zu einer für kämpferische Frauen. Vom Gründungsmythos zu einer imaginierten Vergangenheit, aus der sich eine Zukunftsvision ableiten lässt.

Wie diese Vision aussehen könnte? Ich weiß es nicht; für mich persönlich hat das Kämpferische wenig Anziehungskraft. Wenn ich versuche, im Kopf ein Bild der Amazonen zu entwerfen, wandelt es sich schnell von den bewaffneten Heldinnen zu Thelma und Louise, die in ihrem Auto einer feindlichen Welt Richtung Sonne entfliehen. Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles.2)

Die legendäre Bar der VerschwörerInnen, PoetInnen und SchweizerInnen ist laut Martin Krusche, „ein Schnittpunkt der nirgends vermerkten Routen. Poststation abgekämpfter Amazonen und Navigatoren.“ Was mögen sie dort tun, wenn sie sich treffen, die Amazonen und Navigatoren? Vielleicht trinken sie erst einmal ein Achtel. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.3)

[english version]

Zu den Amazonen: http://www.gilians.de/amazonen/frame1Ama.html
Zu Thelma and Louise: http://www.tfhrc.gov/pubrds/summer96/p96su42.htm
Zu Rilke: http://www.gutenberg2000.de/rilke/gedichte/fuerwolf.htm
Zu Herrn Lehmann: http://www.die-leselust.de/buch/regener_sven_lehmann.htm


1) Ich danke Professor Herwig Wolfram für diesen Hinweis.
2) Rainer Maria Rilke, Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth
3) Diesen meinen Lieblingsschlusssatz habe ich von Sven Regener „Herr Lehmann“, Eichborn 2001 entnommen.


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