[Der Essay Minimundus]

Walter Grond
Kein Denkverbot, kein Spielverbot
(Über den angeblichen Verfall des Lesens)

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Seit einiger Zeit erlebt die Behauptung, das Lesen sei gefährlich und erzeuge widerständige Menschen, eine bemerkenswerte Konjunktur. Nicht etwa von Literatur in Diktaturen ist dabei die Rede. Auch nicht von Büchern, die aus religiösen Motiven verboten oder aus politischen tabuisiert werden. Und auch nicht von Avantgarde-Texten, die sich gegen kulturelle Mittelmäßigkeit auflehnen. Jene Kunde von der Gefährlichkeit des Lesens, wie sie neuerdings zu vernehmen ist, stammt aus der Feder erfolgreicher Autoren und zielt auf eine Verteidigung der Bücherwelt gegenüber der herrschenden Computerkultur.

Martin Suter spricht von der Gegenwelt der Literatur, die den Leser zum kritischen Geist werden läßt. Elke Heidenreich von der unterwandernden Wirkung des Lesens, das Lebensumstände in Frage stellt. Jonathan Frantzen von der bleibenden Substanz, die das Buch, nicht aber der Computer dem Menschen bieten könne. Stets ist es eine einzigartige Aura, die den Lesenden umgibt; Heidenreich spricht gar von einer besondere Begabung, die man braucht, um zum rechten Lesen zu gelangen.

Wenn Suter den Leser als Widerspruchsgeist, Heidenreich ihn als Aufständischen und Frantzen ihn als produktiven Einzelgänger beschreibt, schaffen sie sich ein exquisites Selbstbild. Wer wollte Marcel Proust widersprechen, der vom Leser sagt, daß er, wenn er liest, in Wirklichkeit sich selbst liest? Und welcher Leser hatte sich noch nie allumfassende Rettung erhofft? Leser sind bei sich, lautet die Botschaft, während Nichtleser von Dingen, vor allem Maschinen, mehr und mehr überwältigt werden. Der Leser erscheint als widerstandsfähig gegen die totalitäre Unterhaltungs- und Kriegstechnologie, gegen Mediendemokratie und Versachlichung. Heidenreich verkündet „Wer nicht liest ist doof“. Frantzen beschwört die apokalyptischen Reiter des Krieges, gegen die immun nur die Lesergemeinde ist, die im zerbrochenen Tintenfaß noch Verdammnis und Erlösung auszumachen in der Lage ist.

In solcher Bildungsgeste mag sich der Leser als intelligenter Zeitgenosse deuten, ohne hinterfragen zu müssen, was er eigentlich liest. Und daß der Individualismus, der dem Leser in solchen Apologien einer Kulturtechnik als Lohn seiner Leiden und Leidenschaften versprochen wird, ohnehin die kapitalistische Idealfigur darstellt, wird nicht erwähnt.

Die Kunde, daß nur wer liest, ein rechter Mensch sei, verkehrt die Befürchtungen, die im ausgehenden Mittelalter mit der Erfindung des Buchdrucks verbunden waren. Mit Büchern würden sich, so die Angst damals, Menschen von ihrer Umwelt isolieren und für die Gemeinschaft verloren gehen. Die Hochsprache würde verfallen, das Wissen in alle Winde verstreut werden. Ein kulturpessimistisches Szenario begleitete die Entwicklung des Buches, wie es die Kunde von der Gefährlichkeit des Lesens heute ins Positive wendet: das stille Lesen ist nicht mehr die Gefahr, sondern Rettung in höchster Not vor der Flachheit und Gefühllosigkeit der Computer-Generationen. Für Frantzen sind Schriftsteller und Leser vereint in ihrem Streben nach Substanz angesichts zunehmender Auflösung, in ihrer Innenwendung, die einen Ausweg aus der Vereinsamung öffne. Dafür verantwortlich sei die Vermittlung durch das gedruckte Wort. Und um eine „ewige Liebesgeschichte“ zwischen Buch und Leser zu konstruieren, wie es Heidenreich tut, darf denn auch das Lesen nicht nur Lustversprechen, sondern muß auch Drohung sein: wer es nicht ausübt, soll gar zur Lust nicht fähig sein.

Ohne Zweifel ist die Geschichte der Aufklärung auch eine des Lesens. Freilich sind die enzyklopädischen, romantischen, freigeistigen und revolutionären Bewegungen seit dem achtzehnten Jahrhundert mit dem Lesen verbunden. Keineswegs zu vergessen ist die lehrreiche Genese hin zum mündigen Leser, der in der Moderne schließlich zum Mit-Autor wurde. Aber ebenso zweifelsohne ist die Geschichte des massenweisen Lesens auch eine ihres demagogischen Mißbrauchs. Des diktatorischen Erfolgs, der Verblendung, der Unterdrückung. Wer diese Zwiespältigkeit der mit dem Buchdruck verbundenen Kulturtechniken unterschlägt, verschweigt, daß das Heilsversprechen „Lesen“ das einer Massenware ist. Die Geschichte des neuzeitlichen Lesens ist auch eine des Kapitalismus.

Autoren ähneln in dieser Hinsicht weniger Künstlern als Designern. Sie stellen Modelle für die Massenware „Buch“ und eben nicht Unikate her. Seit Erfindung des Buchdrucks begleitet unauflöslich ein Widerspruch das Geschichtenerzählen - es handelt von Individuation und ist doch Glied in einer Kette industrieller und medialer Wissensproduktion.

Warum gegen Träumereien über das Lesen argumentieren? Weiß es sich nicht von multimedialer Konkurrenz bedrängt genug, als daß nicht jeder Büchermensch es überschwenglich verteidigen müßte? Und kann es nicht tatsächlich als so belebend wie das Atmen wahrgenommen werden? Kann es nicht ebenso Konflikt und Auseinandersetzung bedeuten? Kann sich nicht in Büchern eine andere Realität zeigen, als die in der wirklichen Erlittenen? Kann der Leser nicht ganz und gar eine so symbiotische Beziehung zur Literatur entwickeln, daß er sein Leben inmitten von Büchern beenden will? Haben also jene von Heidenreich zitierten Autoren Alberto Manguel, Peter Weiss und Jean Paul Sartre nicht alles andere als unrecht, wenn sie sich hingebungsvoll übers Lesen äußern ...

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[Siehe auch: Der Wüstengeher]
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