"H"
oder: Die Ikonographie eines verhängnisvollen Zeichens
Von Wolfgang Maria Siegmund

Was wir Sommerreisende seit Jahrzehnten der Stadt Venedig unterstellen, einmal Opfer ihrer amphibischen Architektur zu werden, das geschah an diesem 11. September mit uns selbst. Nach diesem Orkan aus Schreckensbildern ragten unsre Haarschöpfe nur mehr fingerbreit aus der Stuhlpolsterung hervor.

Wir stürzten ein, wir versanken. Und dabei streiften wir eine uns fremdgewordene Wahrheit, daß der Boden dieser Erde vielleicht doch nur aus hart gewordenem Wasser besteht. Ausgerechnet eine handvoll Schurken, die sich ihre unfassbare Schuld durch Selbsttötung eingestehen, nahm unsre coole Sicherheit aus dem Gefrierfach und taute sie mit der Höchststufe an Gewalt vor unseren Augen auf.

Der große, rund ums Jahr dauernde Event hatte seine Zelte noch nicht abgebaut, die Sekttische in Pörtschach waren noch voll mit den Wegwerfbechern einer "Komm nimm´s dir und hau´ wieder ab-Gesellschaft", da schlug das Böse in unsre Mattscheiben ein und zersplitterte nicht nur die kleine "Uschi-Glas-Welt" von hier.

Von Berlin bis Überall fielen die ersten zwei Buchstaben des Wortes S p a ß zu Boden. Die Raabs und Schmidts unserer lustigzynischen Welt rutschten in ihrer eigenen Seifenlauge aus. Der obsolete Ernst und die altmodische Trauer drängten plötzlich wieder zurück in unser Kunterbuntherz. (Ich hoffe, sie bleiben dort noch eine Weile.)

"Aber was geschah mit dem Rest des Wortes?", hör ich das kleine, zitternde Kind in mir fragen. Was geschah mit dem A und dem ß? Angefeuert von Kerosin, verwandeln sich die beiden Buchstaben in einen Strebebalken, der sich mächtig zwischen den Twin Towers verkeilt, die zwei losen Stützen zu einem neuen Zeichen verbindet. Für einen Moment taucht das Signum des vorigen Jahrhunderts unter Feuer und Asche in der Skyline von Manhattan wieder auf: dieses längst überwunden geglaubte H, dieses Zeichen für Haß, Hitler, Hiroshima & Holocaust. Und es scheint fast, auch der vielbeschworene Wassermann könne dieses Brandzeichen auch in seinem Jahrtausend nicht löschen.

In meiner Hilflosigkeit, mir das Ganze noch auf eine andere Weise zu deuten, kommt mir ein Bild von Dali in den Sinn, das ich bisher nie verstanden hatte: In einer menschenleeren Bucht, unter hellichtem Tag, verformen sich Uhren, tropfen kraftlos zu Boden oder hängen wie Pizzas an einem verdorrten Ast. Draußen ein strahlend blaues Meer. Und doch spürt man, etwas Unvorstellbares ist soeben geschehen. Fokussiert unser Blick die gemalten Zeiger, so erkennt man, es ist kurz vor sieben, Dalis Uhren bleiben an dieser Stelle für immer stehen. Zufall oder surreale Synchronizität?

Egal. Irgendwer hat jedenfalls ganz real zu diesem Zeitpunkt befohlen unsre Zeiger zu brechen. Eine riesige Lücke in die westliche Zeitwahrnehmung zu schlagen. Unter Malern heißt es, Bilder seien lebendige Wesen, irgendwann reisen sie dem Ort ihrer Erzählung nach. Picassos Guernica reiste zurück nach Madrid, demnach müsste auch Dalis Werk nur an einem Ort der Welt... Ich greife zum Nachschlagewerk und lese unter der Abbildung nur einen Satz: "Zerrinnende Zeit, Salvador Dali, Museum of Modern Art, New York." [...]

(Textauszug! Volltext hier als RTF-File!)
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