"Erste Prosa"
Von Hans Fraeulin

Meine erste literarische Prosa war ein Parteiprogramm. Bis dahin war ich nur mit ein paar Liedtexten und kleinen Szenen aufgefallen. Den Einwand, ein Parteiprogramm sei keine Literatur, lasse ich nicht gelten. Es stimmt, dass die meisten Parteiprogramme keine Literatur sind. Beim Verfassen von Parteiprogrammen scheint man den Eindruck, es handle sich um Literatur, sogar ängstlich vermeiden zu wollen. Schade. Die Folgen sind bekannt. Parteiprogramme lesen die Wenigsten. Das scheint sogar gewollt. Parteiintern lässt sich jeder Einwand wegwischen mit dem Hinweis: Das steht so im Parteiprogramm. Man fühlt sich ertappt, das langweilige, gleichwohl wichtige Stück nicht gelesen zu haben, und schweigt.

Ende der 70er Jahre entstanden in vielen westdeutschen Städten alternative und bunte Listen, um für die Kommunalwahlen zu kandidieren, auch in Bonn. Ich bekam den zweiten Platz auf der Liste. Das nächste, was anstand, war ein Parteiprogramm. Die Devise hieß: Was rein muss, muss rein. Alle trugen dazu bei. Die einen waren Umweltaktivisten, die anderen setzten sich für den Öffentlichen Verkehr ein, die dritten für Radverkehr.

Anti-Atomkraft-Spezialisten, frauenbewegte Frauen waren dabei, Linke, AstA-Kämpen, Biotope, Recycler, schnelle Nichtbrüter, Straßensperren und so weiter.

Wir trugen unser Spezialwissen zusammen, formulierten, formulierten um und formulierten neu. Köpfe und Aschenbecher qualmten. Dann stand das Parteiprogramm und wir waren stolz.

Es ist inzwischen verschollen. Den Beweis, dass es Literatur gewesen sein soll, kann ich nicht liefern. Ich kann mich jedoch daran erinnern, mit welcher Lust wir uns um gutes Deutsch gestritten haben. Es ging um Prägnanz, Witz, Pointen und darum, ob einem nicht eine noch bessere Formulierung einfällt. Deshalb habe ich keine Bedenken, dieses Parteiprogramm zur Literatur zu zählen - sicher nicht erste Sahne, zumal wegen der vielen Köche. Uns ehrte das Bemühen.

Dass wir gemeinsam etwas zustande brachten, ohne uns zu zerstreiten, schaffte Zusammenhalt. Darin liegt vielleicht der tiefere Sinn aller Parteiprogramme. Ein Parteiprogramm muss man haben, aber nicht gelesen haben. Hauptsache, es ist da als Nachweis des Zusammenhalts. Dann muss das nicht Literatur werden. Schade, auf Fachkräfte in der Literatur zu verzichten, welche für Lesevergnügen sorgen könnten. [...]

(Textauszug! Volltext hier als RTF-File!)
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