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Lästerei #4:
"Strenge Kammer"
(Über den Ernst von Zahnbehandlungen.
Anläßlich eines Orinationsfestes.)
Wer
möchte den Ort seines Arbeitsalltags schon als einen der Schmerzen und des Leidens
verstanden wissen? Es ist wie mit dem Wasserglas, das als halb voll oder halb leer gesehen
werden kann. Auch wenn vermutlich gerade noch in der Unfallchirurgie der Wunsch nach
Vollnarkose häufiger sein dürfte als hier, in dieser zahnärztlichen Praxis. Und das
ganz unabhängig von der realen Kunstfertigkeit der Ärztin; von ihrer konkreten
Fähigkeit, Schmerzen zu lindern oder gar zu vermeiden.
Wovon ist nun die Rede? Von einem Kräftespiel zwischen Prävention, Intervention und
Schutt wegräumen. Das Konservative hat an diesem Ort eine ganz andere Bedeutung als in
der Tagespolitik. Obwohl die Konsequenzen da und dort geichermaßen teuer wären. So
heißt es.
In einer vorabendlichen Soap Opera hörte ich eine ständig Wodka trinkende Millionenerbin
sagen: "Zahnarzt und kein Geld? Lächerlich!"
Wir
wissen, daß Soap Operas die bessere Realität zeigen. Jene, in die von uns kaum jemand
eingehen wird. Und aus den dazwischen liegenden Werbeblocks wissen wir, daß weiße Haare
längst kein Stigma mehr sind, wie uns Aktivsenioren und Power-Omis vorhüpfen. Aber auf
der Felge zu beißen ist ein unerbittliches Symbol für persönliches Scheitern, für den
Mangel an Einkommen und für den Verlust an Jugendlichkeit. Egal wie alt beziehungsweise
jung jemand an Jahren ist.
Ist eine Zahnärztin eine verkappte Bildhauerin? Ist das nicht ein merkwürdiges
Geschäft, an diesen zwergenhaften Skulpturen zu arbeiten, die von so sprödem,
unbeständigem Material sind? Mit hohem Symbolwert beladen. Und überdies an einer derart
unpraktischen Stelle zugänglich gemacht.
Könnte man die Werke auf einem kleinen Sockel in geeigneter Höhe vor sich haben, je nach
Laune in einem hellen Atelier oder unter freiem Himmel, nicht gerade an zappeligen oder
weinerlichen Menschen festgemacht, wäre es vermutlich eine fröhlich stimmende Arbeit.
So aber verlangt die Aufgabe mentale Festigkeit, Gleichmut und Diskretion. Ein wichtiger
Aspekt. Diskretion. Ich frage Sie: Vor welcher Frau würden Sie freiwillig ihre falschen
Zähne herausnehmen? Sehen Sie! Da bleiben gerade noch ihre Mutter, ihre Ehefrau (nach der
silbernen Hochzeit) und ihre Zahnärztin.
Frauen
stehen im Ruf, belastbarer und leidensfähiger zu sein als Männer. Auf jeden Fall aber
haben sie andere Inszenierungen im Repertoire. Man möchte meinen, Männer verfügten
über geradezu biologisch verankerte Reflexe, die sich im Verhalten wie von selbst
aktivieren, wenn Frauen anwesend sind. Bei aller individuellen Vielfalt zielt dieses
Reflexpaket immer auf eine einzige Botschaft, die kommuniziert sein will: "Was für
ein Kerl!"
Das schlägt sich in Minenspiel, Muskeltonus und Gestik nieder. Dieses "Was für ein
Kerl!"-Reflexensemble hält sich locker auf dem Weg vom Pult der Ordinationshilfe,
über Wartezimmer, Klo und Röntgenstube, bis... ja, bis zu jener strengen Kammer, wo die
Attitüde "Was für ein Kerl!" plötzlich implodiert.
Egal, wie hart der Junge sonst noch ist. Ob bubenhafter Kraftlackel oder letzter
Überlebender der Titanic. Daraus folgt, daß dieser zahnärztliche Arbeitsplatz ein Ort
der Offenbarungen ist. Ein Ort der wahren Haltungen. Und seit man in diesen Minuten bis
Stunden unter den Händen der Ärztin liegen darf, hat der Offenbarungseid entspanntere
Posen zur Folge.
Das
sind kostbare Ruhephasen, in denen man mitunter metaphysische Erfahrungen macht. Denn der
Schmerz sitzt in der Empfindung oft ganz wo anders als im realen Leib, in der wahrhaftig
auf dem Behandlungsstuhl vorliegenden Physis. Das wird schließlich zur herausragenden
Integrationsleistung der Ärztin: Wahrnehmung und Physis zueinander zu bringen.
Wenn da etwa eine Dame ruht, die unter Druckstellen leidet, weil sie ihren Zahnersatz
falsch plaziert hat, und nun Probleme vorträgt, die sich nicht bearbeiten lassen; worauf
sich die erfahrene Ärztin schon mal denken mag: "Dir würde ich gerne ein paar
Druckstellen zufügen, wo du sie nicht erwartet hättest."
Aber genau das ist nun der philosophische Akt: Wahrnehmung und Physis in Deckung zu
bringen. Die strenge Kammer ist folglich ein Ort der Philosophie. Nichts Unlauteres darf
hier geschehen. Auch wenn Klientel in herzliche Verwirrung fallen sollte, was in
therapeutischen Berufszweigen gelegentlich vorkommt. Wo einer möglicherweise
Süßwarenabteilungen plündert, Zahnbürsten meidet und erhebliche gesundheitliche Risken
auf sich nimmt, um sich die Zähne zu ruinieren und möglichst schnell wieder in ihren
Händen zu landen. Wohlgemerkt: In ihren Händen, nicht in ihren Armen.
Für
ungebührliche Phantasien ist dieser Ort zu streng. Zu unerbittlich. Auch wenn er, wie
heute, gelegentlich der Rahmen für ein Fest sein mag. Man weise mir den Weg zum Buffet.
Ich zähle hier zu den Patienten und bin deshalb jeder Tafelfreude gewachsen.
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