The Lafayette-Suite: Texte

"Erzählen"
Von Barbara Neuwirth

Das will ich erzählen: Daß in einem Moment durch eine Geste Mechanismen der Welt erkennbar werden, eine Geschichte sich auftut im Kopf und im Herzen, die Augenblicke vorher noch nicht oder nicht mehr gekannt wurden.
Ständig stoße ich auf Fundstücke, die auf solche Geschichten verweisen. Es sind Fundstücke der Erinnerung, des Wissens und der Erfahrung. Fundstücke der Gefühle. Sie verstecken sich in Bildern, in Musik, in Landschaften, in Menschen, in der Traurigkeit und dem, was mir Heimat ist. Hier finde ich etwas, da finde ich etwas, die Zeit ist reich an Eindrücken. Und so bleibt mein Weg zum Schreiben immer der gleiche, auch wenn die Abschnitte, die ich durchquere, sich wandeln.

In einer gewissen Weise haben sich mein Zugang zum Schreiben und die damit verknüpften Methoden in den über 20 Jahren meiner literarischen Arbeit verändert. Verantwortlich dafür ist der Zuwachs an Lebenserfahrung ebenso wie ein Element des Widerstandes, der sich in mir gegen den Verlauf mancher erschriebener Schicksale zu regen begann.
Waren am Anfang meines Schreibens, vom Ende der 70er bis zum Ende der 80er Jahre, alle Anregungen für Texte mit Traumbildern verknüpft, so habe ich mich später diesem Element fortgesetzt entzogen. Meine unbändige Phantasie, der ich große Aufmerksamkeit entgegenbrachte, fabulierte in den Träumen erschreckende Geschichten, zeigte sie mir, die ich sie nicht nur beobachten konnte, sondern gleichzeitig als Träumende auch erlebte und inszenierte, in schamloser Ehrlichkeit. Die Schönheit der (mir jeweils zutiefst bekannten und abgrundtief fremden) Landschaften eröffnete das gesamte Repertoire an Gefühlen – die spärlich auftauchenden Menschen standen als Symbole für emotionale Erfahrungen der Vergangenheit und – ohne daß ich dies zu erkennen vermocht hätte – potentiell der Zukunft.
Die Träume nachzuschreiben war mir nie interessant, vielmehr waren einzelne Blickerfahrungen in den Träumen Ausgangspunkte für Geschichten. Sie waren Tore zu neuen Geschichten, Tore, die in den Träumen verborgen waren. Wenn ich offenen Auges meine mich umgebende Wirklichkeit erlebte, durchschoß mich vielleicht kurz, ähnlich einem Dejavu, die Erinnerung an ein "Standbild" des Traumes. Und wenn ich meine Aufmerksamkeit auf das Bild richtete, begann es vor meinem inneren Auge zu leben. Mein Schreiben war das Protokollieren meiner traumbasierten Abenteuer, und die Protokolle waren von stilistischer Genauigkeit und großer Atmosphäre. Meine Bearbeitungen der Texte beschränkten sich, auch wenn ich die Geschichten vier-, fünf- oder mehrmals zur Bearbeitung heranzog, zumeist auf wenige Stellen, griffen jedoch niemals in den Aufbau der Geschichten und auch nicht in die Handlung ein. Der Unterhaltungswert beim Schreiben war sehr hoch: Ich tauchte in fremde Schicksale, die ich unter vernunftgeleitetem Denken niemals mir auszumalen einverstanden gewesen wäre. Ich erfuhr Probleme, die mit meinem realen Leben nichts zu tun hatten und dennoch während der Zeit des Schreibens plötzlich meine waren.
Und natürlich thematisierten diese Geschichten Themenbereiche, die ich im bewußten, vernunftgeleiteten Leben ebenfalls bemerkt hatte. Allerdings keineswegs auf der emotionalen Ebene der direkt Betroffenen, sondern aus dem Bauchladen der Aneignungen schöpfend. Alle Anregungen waren geeignet, meinen Geist zu beflügeln: direkte visuelle und akustische Beobachtungen, Informationen aus den täglichen Medien, aus literarischen und wissenschaftlichen Büchern und aus meinen Studien an der Universität, Erfahrungsberichte von FreundInnen und anderen GesprächspartnerInnen, Impulse aus allen Sparten der Kunst. Die Konstruktion der Erzählungen korrespondierte so wiederum mit jener der Träume: Aus Mosaiksteinchen unterschiedlicher Farbe, Größe und Herkunft schuf sich etwas Neues, das Figur, Aussehen und Wirkung hatte und in dem man dennoch bei entsprechender Nähe und Hintergrundwissen die einzelnen Mosaiksteine identifizieren kann.

Dieser kreative Prozeß erfuhr nach und nach Veränderungen. Ein Wendepunkt war gewiß die Arbeit an der Novelle "Im Haus der Schneekönigin". In der Analyse der Hauptingredienzien dieses Textes erkannte ich als ein starkes Motiv die Information über ein wissenschaftliches Experiment in der Sowjetunion, wo man Säuglinge in einem Waisenheim zwar nicht verhungern und verdursten ließ, auch die medizinische Betreuung nicht vernachlässigte, aber körperliche (und damit seelische) Zärtlichkeiten verweigerte. Das Experiment wurde schließlich abgebrochen, weil viele der Kinder starben. So, erinnerte ich mich, las ich es in einer Zeitung in den späten 70er Jahren, also über ein Jahrzehnt, ehe ich mit der Novelle begann. Den Artikel fand ich nicht mehr – ich suchte ihn erst, als ich mit der Novelle fertig war und die Verbindung zu der Information nachträglich entdeckte. Das zweite Motiv war die feministische Frage nach der weiblichen Genealogie und die Weitergabe patriarchaler Deformation von einer Frau an die nächste.
Da sich aufgrund dieser beiden Motive das Schicksal meiner Heldin nur erschreckend entwickeln konnte und ich ihm zu folgen hatte, gab es anschließend eine starke Abwehr gegen Erzählungen, die sich für meine Protagonistinnen gefährlich entwickelten. In der Folge brach ich eine Reihe von Erzählungen ab, weil ich die Konsequenzen für die von mir erschriebenen Frauen fürchtete.
Erst im Zuge meiner Arbeit an der Novelle "Empedokles´ Turm", die auf der Folie philosophischer Fragmente des Vorsokratikers Empedokles eine abenteuerliche Besteigung des Vulkans Ätna durch eine Frau und drei Männer beschreibt, war ich in der Lage, meine Protagonistin mit Widerstand gegen Fallen der weiblichen Existenz auszustatten, mich mit ihr auf einen Prozeß einzulassen, in dem sie Erkenntnisse über das System und ihre Rolle darin für ein verändertes Verhalten nützen konnte. [...]

[TEXTAUSZUG! Volltext hier als RTF-Datei.]
Aus: "Die (Post-)Moderne in der österreichischen Literatur von Frauen (Autorinnen – Poetologien – Schreibweisen)"
Hrsg. von Petra Ganglbauer und Hildegard Kernmayer
Wien: Milena Frühjahr 2003.

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