Abstracts
Sixth Annual Conference on Austrian Literature and Culture
"Visions and Visionaries in Literature and Film of Modern Austria"
October 2001

Rainer Bellenbaum, Berlin
"Migration – Gewalt – Mobilität – Immobilität. Wie Michael Haneke durch ein filmisches Prinzip gesellschaftliches Verhalten reflektiert"

Eine der elementarsten Eigenschaften des Kinos ist die Bewegungsillusion. Bei den Filmen von Hankeke trifft diese nicht nur für die Bilder auf der Leinwand zu, sondern vor allem für das psychosoziale Verhalten ihrer jeweiligen Helden. Diese befinden sich stets im Dilemma zwischen innerer Erregung und äußerlicher Immobilität. Sie sind zu aufgeregt, um einzuschalfen, haben zuviel (fern-)gesehen, als dass sie noch mit überraschungen rechneten oder erschießen sich selbst, da sie im Stau stehen. Sie haben das Gefühl, die Dinge um sie herum bewegen sich nicht mehr wirklich und drehen deshalb innerlich durch. Auf die Frage, warum er nach langem Zögern das Verbrechen, für das seine Eltern ihn in Schutz nahmen, schließlich an die polizei verrät, antwortet Benny (in Bennys Video), auf gut österreichsich, "So halt!" und verweist damit, bereits sprachlich, auf Immobilität.

In vielen Fällen steht der uaußeren Gleichgültigkeit eine unterschwellige Explosivituat entgegen. Markantes Sinnbild dafür ist das Schlachtschußgeruat im selben Film, ein zylinderförmiger Apparat, der am Körper des øpfers plump aufgesetzt wird und dieses per elektromagnetischen Stromschlag nahezu unsichtbar tötet. Als das Mädchen das Video von der Erschießung eines Schwein sieht, äußert sie sich lediglich zum Wetter (Es schneit ja!"), während der Tötungsvorgang bei ihr keine Reaktion hervorruft. Ebenfalls symptomatisch: der nahezu phlegmatische Gebrauch des ultimativen Wortes: "supter!" in den Dialogen von Benny.

Auffällig oft sind in Hanekes Filmen Fernseh- und Video-Material eingefügt: zum einen betrachten die Protagonisten dieses Material ihrerseits, scheinbar emotionslos, mit dem Ausdruck, asl wenn da vor ihren Augen nicht wirklich was passieren würde. Andererseits repräsentieren die Videobilder ihren technisch definierten subjektiven Blick auf die Ereignisse um sie herum. Wenn sie mit der Kamera in der Hand ihre Umgebung provozieren bzw. das Spektakuläre oder Schockhafte suchen, bezeugen sie damit weniger ihre eigene neugier als den Code des benutzten Mediums.

Zu Anfang von "72 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" wandert ein kleiner osteuropäischer Junge durch eineFlußlandschaft, versteckt sich im Laderaum eines LKWs, um illegal nach Wien einzureisen. Parallel zu anderen Charakterporträts zeigt der Film, wie sich der Junge allein in der Stadt durchschlägt, bis ein kinderloses ehepaar ihn adoptiert. Am ende sitzt er in einem PKW und wartet vergleblich auf seine Adoptivmutter, die gerade zufällig in einen Banküberfall geriet und erschossen wurde.

Für gewöhnlich gilt in westeuropäischen Ländern die Ansicht: (osteuropäische) Ausländer sind Migranten (mobil), Inländer dagegen einheimisch (immobil). Hanekes Filme desavouieren dieses Klischee und zeigen in welch subtilen, dramatischen, aber vor allem Gewalt-provozierenden Mobilität-Immobilität-Strukturen sowohl Inländer wie auch Ausländer sich befinden.

In meinem Beitrag werde ich an Hanekes 90er-Jahre Filmen Der siebte Kontinent, (Österreich, 1989) bis Code Unbekannt (Frankreich, 2000) der Frage nachgehen, wie sich innerhalb jener Struktur der Blick des österreichischen Filmers über sein Land entfaltet hat.

abstract-liste | core | home | kunstraum.gleisdorf [47•01]

maintained by martin krusches [~] unplugged