Abstracts
Sixth Annual Conference on Austrian Literature and Culture
"Visions and Visionaries in Literature and Film of Modern Austria"
October 2001
Wynfrid Kriegleder,
Universität Wien
"Soma Morgensterns book Die Blutsäule an early attempt to deal with the
Holocaust"
[...] Um die in der Blutsäule anklingende
geschichtsphilosophische und theologische Debatte um die Bedeutung des Massenmords
verstehen zu können, muss Soma Morgensterns Auffassung von der Sendung der Juden in
Europa beleuchtet werden. Schon in seiner Trilogie Funken im Abgrund, konzipiert
noch vor dem Nazi-Terror, vollendet freilich erst nach dem Krieg, findet sich die
unmissverständliche Auffassung, dass es in Europa für die Juden keine Zukunft gebe.
"Ich habe kein Vertrauen zu der Lage der Juden hier", erklärt dort eine der
Figuren, Onkel Welwel. Zwar steht diese Auffassung durchaus im Widerspruch zur
Romanhandlung, die ja gerade die gelingende Rückkehr eines jungen säkularisierten Juden
in die alte religiöse Tradition und nach Galizien schildert. Aber am Ende
bleibt dennoch lediglich die Hoffnung auf den Zionismus, auf die Gründung Israels, auf
einen Platz, an dem das Idyll nicht im Exil errichtet werden muss, sondern von Dauer sein
kann.
Für den Verfasser der Blutsäule ist Europa endgültig und vollkommen moralisch
bankrott gegangen. Das Buch stellt tatsächlich so etwas wie eine Fortsetzung der Trilogie
dar, worauf ja auch Soma Morgenstern selbst verwiesen hat. Was aber in der Trilogie noch
Furcht vor der europäischen und Hoffnung auf eine israelische Zukunft war, ist in der Blutsäule
zur unumstößlichen Erkenntnis gereift. In seinem schon mehrfach zitierten
"Motivenbericht" berichtet Morgenstern von seiner Schreibblockade, als er
merkte, dass die aus Zorn und Ekel verfasste erste Version des Totenbuchs ungenügend war,
vom Warten auf eine Wendung in "gläubiger Geduld. [...] Und da geschah das Wunder
der Weltgeschichte: In den United Nations ereignete sich das Auferstehen Israels. Ich
fühlte, wie ein großer Trost das Leben wieder lebenswert machte."
Das Wissen um die Existenz Israels ermöglicht es dem im New Yorker Exil lebenden Autor
Soma Morgenstern, sein Buch des Gedenkens, der Klage und der Anklage zu beenden, dem
Sinnlosen dem Massenmord einen höheren Sinn zu verleihen. Dass wir uns hier
auf einem höchst prekären Gebiet bewegen, steht wohl außer Zweifel. Denn eine
historisch zweifellos richtige kausale Verbindung der Shoa mit der Gründung Israels zieht
die Gefahr nach sich, die Shoa als Vorbedingung der Existenz Israels zu sehen, als ein
Böses, aus dem das Gute entsteht, und damit ist dem Bösen in welcher Weise auch
immer Sinn verliehen. Auch wenn daher in der Blutsäule die absolute
Bösartigkeit des Massenmords beschworen wird was sich etwa darin äußert, dass
während des Prozesses in der Synagoge sogar ein Abgesandter der Hölle auftritt und sich
voll Ekel von den SS-Männern distanziert: die ermordeten Kinder sind dennoch die
Blutsäule, die den Weg nach Israel weist. Ein kurzes Zitat aus dem Buch Exodus,
das Morgenstern seinem Erzähltext voranstellt, bestärkt diese Interpretation, da sie das
zu berichtende Geschehen heilsgeschichtlich auslegt: "Und der Ewige zog vor ihnen her
des Tages mit einer Wolkensäule, sie des Weges zu leiten, und des Nachts mit einer
Feuersäule, ihnen zu leuchten, daß sie gehen mochten Tages und Nachts". Im
zweiundzwanzigsten Kapitel greift Nehemia dieses Bibelzitat auf und apostrophiert die
Figur seines erschlagenen Bruders: "Wie die Feuersäule bei Nacht, wie die
Wolkensäule bei Tag [...] wird uns diese Blutsäule über alle Wüsteneien in das Heilige
Land führen. Atchalta dgeula! Die Erlösung hat angefangen. Kommenden
Jahres in Jerusalem!" Das Blut von eineinhalb Millionen ermordeten Kindern
ertrotzt die Prophezeiung.
In welchem Verhältnis steht die von mir konstatierte Mehrstimmigkeit des Textes zur
einstimmigen und eindeutigen geschichtsphilosophischen und theologischen Aussage? Mir
scheinen zwei Lesestrategien möglich. Der Text kann in Hinblick auf eine vom Leser zu
leistende und, wie ich annehme, vom Autor erwünschte Geschlossenheit
rezipiert werden; die einzelnen Stimmen münden dann in die harmonische und kohärente
Botschaft des Boten Gabriel; der religiöse Leser erkennt selbst in den unerhörten
Verbrechen die Anwesenheit Gottes. Oder aber der Leser kann diese Geschlossenheit nicht
akzeptieren, die Stimmen bleiben unversöhnt nebeneinander und behalten ihr Eigenrecht:
Die Trauer über die vernichtete Idylle, die Wut über die Mörder, die Erfindung einer
Legende in der Hoffnung, dass der Himmel nicht schweigen möge all das steht
unverbunden nebeneinander, ohne sich notwendigerweise zu der einen Botschaft
zusammenzuballen.
An dieser Stelle und zu Abschluss wäre nun natürlich endlich der eingeengte Blick auf
das Buch von Soma Morgenstern aufzugeben, wäre einzugehen auf die Frage, wie sich die
jüdische Theologie mit der Shoa auseinandersetzt, wäre der umstrittenen Frage
"Holocaust und Literatur" nachzugehen. Das soll und kann hier nicht geschehen,
teils aus mangelnder Kompetenz des Vortragenden, teils, weil die Literatur zu diesen
Themen bereits unüberschaubar ist, weil schon sehr viel Kluges gesagt wurde und weil
nicht als akademische Pflichterfüllung eine Zusammenfassung bekannter Positionen gegeben
werden soll. Zwei Hinweise mögen genügen:
Erstens: Soma Morgenstern ist mit seiner Blutsäule ein Visionär und Pionier
insofern, als die intensive theologische Debatte um die Shoa erst in den 1960er Jahren
einsetzte. Aus seinem "Motivenbericht" wissen wir, dass er bei seinem Besuch in
Israel 1950 seinen Freund aus glücklicheren Tagen, den bekannten jüdischen Theologen und
Philosophen Abraham Joshua Heschel, besuchte. Mit Heschel hatte er bereits in New York
seine Schreibprobleme diskutiert; ihm schickte er als allererstem Leser die vollendete Blutsäule.
Heschel, der neben Martin Buber "als bedeutender Vermittler chassidischen
Geistes" gilt und eine Theologie des in der Geschichte handelnden, mit seinem Volk
mit-leidenden Gottes vertritt, ermunterte Soma Morgenstern, der über die theologische
Botschaft des Buchs unsicher war. Und bezeichnenderweise beendet Morgenstern seinen
"Motivenbericht" mit einem Zitat Heschels, in dem dieser auch das persönliche
Leid des Autors in einen möglichen göttlichen Plan einordnet: "Vielleicht war Ihr
Weg von einem Dorf in Ostgalizien nach Wien, nach Berlin, nach Frankfurt zur Frankfurter
Zeitung nur dazu vorausbestimmt, daß dieses Gericht über die Mörder und der Trost
für unser Volk in dieser Sprache erscheinen sollte. Es ist ja doch die Sprache Lessings,
Johann Peter Hebels, Herders, die Sprache von Moses Hess und sogar von Theodor
Herzl." Selbst der Lebensweg des Autors kann also sub specie intentionis Dei gesehen
werden.
Zweitens: Soma Morgensterns Buch ist ein früher Versuch, sich der Shoa literarisch zu
nähern. Morgenstern erkannte, dass die traditionelle, realistische Manier, der noch seine
Trilogie verpflichtet ist, diesem Ereignis nicht angemessen war, und nahm in der
Gerichtsprozess-Struktur des Buchs manche spätere literarische Versuche vorweg. Freilich:
Die industrielle Massentötung wird in dem Buch zwar angesprochen, die eigentliche
Geschichte der Blutsäule aber ist ein ganz konkretes Massaker, von konkreten, wenn
auch banalen Tätern an konkreten Menschen verübt. Damit entgeht die Blutsäule
nicht völlig einer Gefahr, die Jürgen Nieraad generell in Hinblick auf
"Auschwitz-Literatur" geäußert hat, wenn er Interpretationen kritisiert, die
"dem Geschehen Erhabenens, Heroisches, Beschwichtigendes, Mythisch-Schicksalshaftes,
kurz: einen versöhnlichen Sinn abgewinnen.". Und Gert Mattenklott erklärte das
"Bedürfnis nach Sinnschöpfung" in manchen Shoa-Dichtungen damit, die Autoren
wollten "die Kränkung abwehren, die in der Einsicht liegt, daß es kein Holocaust,
kein Opfer, sondern nur Mord war." Allerdings ist es wohl einfacher, vierzig bis
fünfzig Jahre nach der Abfassung der Texte zu diesem durchaus richtigen
Urteil zu kommen, als im Jahre 1950 mit der Erfahrung fertig zu werden. Für jemand wie
Soma Morgenstern, ein gläubiger Jude bis zuletzt, war der Versuch einer
heilsgeschichtlichen Einordnung des Massenmordes wahrscheinlich die einzige Möglichkeit,
einfach weiterzuleben. Dass sich sein Text allerdingss nicht in der eindeutigen
Interpretation erschöpft, macht meines Erachtens die Größe des Schrifstellers Soma
Morgenstern aus. [...]
Textauszug! Falls Sie der Volltext
interessiert, wenden Sie sich bitte an den Autor: wynfrid.kriegleder@univie.ac.at
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