Vom anfänglichen Schweigen der Kriegsberichterstatter
und ihrem anschwellenden Zorn, als es längst zu spät war...
(Eine Nachbetrachtung)
Von Wolfgang Maria Siegmund

Inzwischen wurde das Land, in dem die Sumerer das Rad und die Schrift erfunden hatten, vom „Tumbleweed-Westen“, diesem über alles rollenden Bush überrannt und neu beschriftet. Es gelang mit Kettenfahrzeugen und der einfachen Keilschrift der Waffen. Möge sich der Plan einer Demokratisierung mit „unlauteren Mitteln“ auch erfüllen, bei uns „alten Europäern“ hält sich die Siegesfreude nach wie vor in Grenzen. Es ist, als trage die Mehrheit des europäischen Volkes noch eine Spur kollektiver Erinnerung in sich, wie sehr sie diesen zwei archaischen Errungenschaften ihren Fortschritt verdankten. Doch in diese Erinnerung mengt sich auch eine Spur dunkler Ahnung, die aus dem alten Babylon in unser „Schöner Wohnen-Leben“ weht: die biblische Sprachverwirrung. Und plötzlich, in den ersten Tagen des Krieges, Jahrtausende später, war sie mitten auf unsren Schirmen als Bilderverwirrung zu sehen.

Wir blickten erstmals auf Kriegsreporter neuerster Prägung, wir erlebten sie als Teil der Armee. Ihr „eingebetteter“ Blick wurde kontrolliert und damit ihr Auge zensuriert. Hier wurde Berichterstattung zur medialen Lenkwaffe deformiert. Und, was uns vollends verwirrte, diese Wahrheit wurde auch direkt ins Mikrofon gesprochen. Es war, als stünde da ein Sprechautomat, dem das Pentagon jede menschliche Bewertung aus der Software gefiltert hatte, jede Mimik des Entsetzens, jedes Adjektiv. Nur Wertfreies über den Sandsturm durfte in diesen ersten Tagen aus seinem Mund über unsre Schirme fließen. Eine Art freundlicher Wetterbericht des Grauens wurde in den Sendern kreiert. Selbst wir Couch-Soldaten hätten bei soviel Sand, der uns live in unsre Augen staubte, eine Schutzmaske gegen verlogene Bilder gebraucht. Und jene Auserwählten fuhren in den Panzern mit, als wäre auch der Berichterstatter nichts anderes als ein Berufssoldat, der hier nur seinen Job erledigt. Doch ein teilnehmender Beobachter sagt niemals mehr die ganze Wahrheit. Er wird zum Therapeuten, der mit seiner Patientin schläft. Die Grenze zur mitknipsenden Täterschaft verschwamm mit jeder Wüstenmeile Richtung Bagdad.

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Diese viel zu enge Mitnahme in den Krieg hatte auch das Aussehen der War Reporters transformiert. Das Bild vom Jeans tragenden Idealisten von der Größe eines James Nachtwey, der mit nichts als seiner Nikon durch die Straßen Beiruts läuft, war nun passé. Der Kriegsreporter von heute sah aus, als würde er gleich den Mars erobern. Sein ehemals aus taktischen Gründen sehr ziviles, neutrales Aussehen war nun schwer gepanzert, er trug tarnfarben, als hätte sich auch dieser Berufsstand längst vor der Wahrheit verkrochen.

Fast schien es, die alte Intention, mit leidenschaftlicher Objektivität uns ein Bild zu verschaffen, sei endgültig dem Druck gewichen, nur mehr die Schönfarben der eigenen Seite zu belichten. Das war nicht immer so. Urmodell und Vorbild dieser geheimnisvollen Spezies, die weit über den Grenzen unsrer Vorstellungskraft agiert, war ein kleiner, gutaussehender Mann aus Ungarn, der spätere Begründer von MAGNUM – Robert Capa.

Stets unter Einsatz seines Lebens lief er dem Grauen hinterher, als könnte sein Finger dies alles noch stoppen. Ein Träumer. Ein Frauenheld. Ein Rebell. Ein vom Tod Gekaufter. Ingrid Bergmann wollte ihn heiraten, doch was sie nicht wußte, er war längst an seine Leica vergeben. Von allen Klischees, die dieser Spieler und Lebemensch auf sich vereinte, wird vielleicht ein Funken wahr sein. Verbürgt sind jedenfalls seine Photos, die so nah sind, daß man die Kralle des Krieges, wie auch die Würde des letzten Augenblicks noch deutlich erkennt. Und verbürgt ist sein legendärer Satz: „Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, dann bist du nicht nah genug dran.“

Dieser Ausspruch sollte ihn eines Tages selbst in jene Nähe bringen, wo es danach nichts mehr zu berichten gab. 24. Mai 1954, ein heißer Tag im Roten Delta von Hanoi. Capa hat seine Thermosflasche mit Cognac gefüllt. Er folgt einem Trupp französischer Soldaten, die durch ein Reisfeld waten. Die Kolonialmacht Frankreich ist am Ende, überall Vietminh. Dieses Photo wird das letzte sein, das er in seinem Leben macht, eine halbe Sekunde später wird eine Tretmine seinen Lebensfilm zerreißen. Und doch blieb sein Satz so etwas wie die erste heimliche Verfassung unter der Kriegsreporterschaft.

Doch sie galt nur bis zum amerikanischen Debakel in Vietnam. Danach wußten es auch die Falken: Mitfühlende Berichterstattung ist eine der schwersten Waffen des Friedens. Aber es ist weniger das Herzeigen des Ungefilterten, die Wucht der Leichenberge, die unsre Seele bespringt, es ist immer noch die kleine unscheinbare Schleifspur dorthin. Es ist der emphatische Kamerablick ins Gesicht von alten Frauen, die in den Himmel von Barcelona schauen, damals 1937. Und wenn auch die am Photo nie gezeigten Bomben längst gefallen sind, noch 66 Jahre später denkt der heutige Betrachter ihr mörderisches Fallen hinzu. Und gerade in diesem Auffüllen der Lücke mit der eigenen Menschlichkeit liegt die enorme Kraft von Photos wie sie ein Robert Capa schuf. Daran mußte man denken, wenn man die vollkommen vom Grauen befreiten Berichte der ersten Tage sah.

Statt der „vietnamesischen Nähe“ war die „amerikanische Totale“ in den Bildschirm eingezogen. Einst erfunden vom Regisseur John Ford für einen Helden wie John Wayne. Nun konnten er und seine Hollywoodtruppen die bösen Sioux abschlachten, ohne weiter ins Detail zu gehen. Für jede Schuldfrage war die Kamera einfach zu weit weg. Punkt. Auch dieser Krieg sollte ein Western werden, mit fernen Rauchsäulen, grün verschwommen Tanks. Die einzig nähere Betrachtung, die uns die freie Welt Amerikas inzwischen noch erlaubte, war der starre Blick auf ihr Rednerpult aus der Froschperspektive gefilmt. So, wie eben ein politischer Zwerg das Große zu sehen hatte. Die kleinsten Generäle streiften dafür mit dem Kopf fast den Plafond. Schließlich sollten ihre vier Sterne auf der Schulterklappe uns die freie Sicht ersetzen auf die wirklichen, im Rauch verhüllten Sterne über Bagdad. Der Backstage-Raum ihres bunten Feuerwerks durfte dabei nicht betreten werden. Denn da gab es noch ein Problem: Ein getöteter Mensch verwest nicht virtuell, die schwarze Weg-Taste hat man für Menschenleiber noch nicht entdeckt.

Währenddessen hockten die Nachfahren Capas wie Gefangene im Informationscamp von Katar und warteten auf Briefings mit der Aussagekraft eines drei Hauben-Kochs über den Hunger in der dritten Welt. Hier konnte die alliierte Streitmacht ihren ersten Sieg erringen: Sie hatte die Pressefreiheit vernichtend geblendet, mit glitzernder Hardware, für die es keinen Anschluß gab. Dafür hatte man Fürst Potemkin als heimlichen Bauherren dieses Nachrichtenzentrums wieder zum Leben erweckt. Der wegrationalisierte Berichterstatter mußte schweigen. Dafür erhielten wir die mechanische Bewertung der Lage von menschenleeren Kameras, fix installiert auf einem Dach. Die Hand des Photographen hatte sich erübrigt. Dementsprechend sah es auch aus, was man uns zeigte. Menschenleeres Flackern, frei von Bewußtsein. Die philosophische Richtung des Solipsismus kam einem dabei in den Sinn: Ohne uns gäbe es da draußen auch keine Welt. Vor diesen nächtlichen Standbildern schien diese zumeist belächelte Weltauffassung endlich ihren Wahrheitsbeweis angetreten zu haben. Das konnte auch nicht die Welt sein, die wir gemeinsam bewohnten. Das war der Blick einer kalten Maschine. Ohne Elend, ohne Leid.

Doch dann, schon am Ende dieses Krieges, kam jener Tag, als die amerikanische Totale in den engen Aufschrei der Zeugenschaft kippte. In die Bilder & Statements der Berichterstatter mischten sich plötzlich Zorn, Ohnmacht und Tränen, dabei waren sie nach der Capa Doktrin nicht einmal zu nah am Geschehen. Aus dem Himmel fallen Bomben auf ihre Nachrichtensender, von weit weg schießt ein Panzer seine tödliche Salve auf ihr Pressequartier, also mitten hinein in ein Tabu. Gehüllt in irakisches Leinen werden tote Kollegen aus den Hotelgängen gezerrt. Mit ihren eigenen Kameras filmen sie nun ihre eigenen Tränen. Zur selben Zeit wird auch die vermeintliche Sicherheit des Eingebettetseins vor ihren Augen zerplatzen. Auch hier: nichts als tote Kollegen, aus London, aus Madrid.

Nun endlich wird die Kamera und das Herz mit seinem Gerechtigkeitssinn wieder in Richtung der Fratze dieses Krieges gedreht, sie fahren durch die Straßen und zeigen es her: Das zivile Entsetzen und ihre eigene Ohnmacht. Zu spät! In diesem Spiel medialer Manipulation gerät ihre Betroffenheit rasch unter die Räder. Schon Stunden später verlangt der rollende Tumbleweed-Westen nach schönen Bildern über die geglückte Befreiung, nach lachenden Irakis. Jetzt bloß keine Kinder mit nur einem Bein. Und in der Lounge jenes Pressehotels, auf das man soeben noch schoß, trifft die abreisende Reporterschaft auf jene, die auf sie schossen: Computerspielerprobte Haudegen um die Zwanzig, die seit einem Jahr nicht mehr bei Mutter leben, aber dafür weit kaltblütiger schießen, als noch der gute alte John Wayne. Verändert verlassen diese Reporter wortlos das Gebäude. Sie gehen als Capas, als Gerda Taros, als Zunahgekommene – ja, sie reisen als Uneingebettete aus, mit der zurückeroberten Würde ihres Berufes in der Tasche. Zuletzt, beim Anblick dieser Sieger, hört man unter den Korrespondenten ein „BIS BALD“ in vielen, vielen Sprachen...


Wolfgang M. Siegmund
Der Pavillon

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