crossing borders: having east / text #2

Ausgedachte Geschichten
Von Andrey Velikanov
(Übersetzung: Nikolai Klimeniouk)

"Jetzt können wir das russische Leben so festhalten, wie es in Wirklichkeit ist. Jetzt ist es nicht mehr nötig, sich Geschichten auszudenken."
Lew Tolstoj nach dem ersten Kinobesuch im Jahre 1908.

Am 5. April 1242 hat Alexander Nevski die Truppen des Teutonischen Ordens geschlagen. Siebenhundert Jahre später drehte Sergei Eisenstein einen Film über diese Schlacht, den man im zweiten Weltkrieg zur Ermutigung der Roten Armee verwendete. Inspiriert von Eisensteins und Prokofievs "ausgedachter Geschichte", die "mit dem Leben wie es in Wirklichkeit war" wenig zu tun hatte, zogen russische Soldaten in den Krieg, um zu Tausenden, nein, zu Zehntausenden zu sterben. Spricht man von der Verantwortung des Künstlers für seine Taten, so ist zum Beispiel Robert Oppenheimer mit seiner Atombombe im Vergleich mit unseren Jungs einfach ein jämmerlicher Terrorist, der eine bescheidene Ladung Trotyl angefertigt hat, um den benachbarten Bäcker anzugreifen. Rußland hat diesmal einen enormen Preis gezahlt; aber es hat auch diesen Krieg gewonnen.

text02.gif (9332 Byte) Ein halbes Jahrhundert später hat Rußland den Kalten Krieg verloren. Diese Niederlage hat einen bitteren Nachgeschmack im nationalen Selbstbewußtsein der Russen hinterlassen. Leider können die Russen nicht mehr wie die wunderbare Gestalt aus Eisensteins Film rufen: "Los, Männer, geben wir es den Deutschen!" Die ursprüngliche Begeisterung nach dem Fall aller Mauern, eiserner Vorhänge und totalitärer Regime wurde von der Hoffnung, der Westen werde uns helfen, und dann schließlich von einer noch größeren Enttäuschung abgelöst. Die Russen sind allein mit ihren Problemen geblieben; die Russen haben verloren und das in jeder Hinsicht: sozial, politisch, ökonomisch.

Rußland ist ein großes Land und wird gewiß seine Probleme selbst bewältigen. Rußland hat viel Öl, Gold und Plutonium, und das reicht aus, daß ein Prozent der Bevölkerung in der ganzen Welt mit Geld um sich schmeißen kann. Wie alle anderen zurecht kommen sollen, ist mir unbekannt. Doch die sogenannten "Künstler", wenn sie es nicht schafften, in die Werbung für 200$-teuere modische Schuhe einzusteigen, dann haben sie nur noch die einzige Ware behalten, die sie vielleicht, aber sehr unwahrscheinlich, noch verkaufen können: Diese besondere Art des russischen philosophierenden Charakters, die berühmte geheimnisvolle russische Seele. Wenn nur die Substanz der russischen Seele ein bißchen wie Öl wäre! Wenn es nur irgendwo in Sibirien eine unerschöpfliche Quelle gäbe. und die ermüdeten Künstler, nach dem langen Arbeitstag an der Bohrung von Kopf bis Fuß mit duftender blutfarbiger Flüssigkeit besudelt, nähmen das Abendessen mit Waldnymphen am unversiegbaren Brunnen ein. Dann, nachdem sie alle notwendigen Papiere entsprechend den bürokratischen Vorschriften besorgt haben, könnten sie die kostbare Ware in den Westen ausführen, wo diese von einer reichen Firma aufgekauft und in allen Wirtschafts- und Kulturbereichen, von Pharmazeutik und Parfumerie bis Philosophie und Jurisprudenz verwendet werden könnte. Die russischen Künstler, nach einer Woche reichen Lebens im Westen wie arabische Scheichs, bekämen Heimweh nach der teueren Bohrung und, nachdem sie den notwendigen Kram gekauft haben, würden schnellstens zu ihren Nymphen zurückfahren.

Leider steht der russische Künstler eher irgendwo am Flohmarkt zwischen Vietnamesen mit ihren Zigaretten und Türken mit ihren Dönem und versucht einen Tropfen der russischen Seele zu verkaufen, den er in langen schlaflosen Nächten gesammelt hat, und der nun in einem winzigen Flakon zwischen einer Garnrolle und einer kaputten Schere liegt. Die Kunden laufen gleichgültig vorbei und wissen nicht, was ihnen zum Teufel dieser Flakon eigentlich nützt.

Wir wissen ja, daß die beiden Geschichten erfunden sind und alles in Wirklichkeit ganz anderes ist. In Wirklichkeit haben die russischen Künstler dank ihrer außergewöhnlichen, phantastischen Aufnahmefähigkeit das Gefühl der Frustration im russischen Nationalbewußtsein (genauer gesagt im kollektiven Unbewußten) absorbiert, und andererseits, sich durch ungeheure postmoderne Prinzipienlosigkeit und Frechheit auszeichnend, äußern sie jetzt dieses Gefühl lautstark auf jede erdenkliche Weise. Die Massenhysterie nimmt, wenn sie in den Raum der Kunst gerät, völlig pathologische Formen an, obwohl dieser Raum bloß eine unbedeutende und wenig besiedelte Insel ist.

Doch für die Künstler ist es jetzt auf ihrer Insel eng geworden, sie wollen in die "reale" Welt, sie wollen aktiv handeln. Sie sind vom langen Stehen am Flohmarkt ohne etliche Aufmerksamkeit für ihre Person beleidigt. Sie wollen den potentiellen Kunden einholen, ihn am Kragen greifen und ihm ins Gesicht spuckend, die abrupten Parolen der modernen russischen Kunst hervorstoßen. Dann wollen sie ihn beißen, beißen. Und wenn der Kunde zu Tode erschreckt wegläuft, um die Polizei zu holen, rollen sie mit ihren Augen, heulen wild mit ihrem blutverschmierten Mund und jagen allen ehrlichen Seelen im Umkreis von einigen Meilen Furcht ein. Wenn aber die bescheidenen und etwas verlegenen Polizisten endlich kommen, dann stehen sie von ihren Vierem auf, schütteln von sich geschäftig den Dreck ab und leiern schnell einen makellosen kunsttheoretischen Text über soziale Performance herunter. [...]

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